Agoraphobische Angststörung
Historische Aspekte der Agoraphobie
Agoraphobie (vom Griechischen agora = Marktplatz und phobos = Angst) heißt auf Deutsch „Platzangst“. Die Angst bezieht sich nicht nur auf offene Plätze, sondern auf alle möglichen öffentlichen Orte (Lokal, Geschäft u.a.) und Menschenansammlungen, wo Flucht schwer möglichst. Gefürchtet werden daher mehr überfüllte als leere Plätze.
Der Begriff „Agoraphobie“ wurde erstmals im Jahr 1871 vom deutschen Psychiater Carl F. O. Westphal verwendet und verstanden als „Unmöglichkeit, durch bestimmte Straßen oder über bestimmte Plätze zu gehen oder die Gewissheit, dies nur unter Angst tun zu können“.
Schon Westphal betonte folgende Aspekte der Agoraphobie:
- Die „Angst vor der Angst“, d.h. die Erwartungsangst, ist das zentrale Merkmal der Agoraphobie. Von einem der drei beschriebenen Patienten heißt es: „Was ihm Angst mache, davon hat er selbst keine Vorstellung, es ist gleichsam die Angst vor der Angst.“
- Bei agoraphobischen Zuständen handelt es sich oft um plötzlich auftretende Angstzustände mit Herzklopfen, Schwindel, Ohnmachtsgefühlen, Todesangst, „Furcht vor dem Irrewerden“ und der Angst, die Kontrolle zu verlieren. Es wird somit bereits die Agoraphobie mit Panikstörung beschrieben („Die Angst ist da, von selbst, ein plötzlich auftretendes Etwas“).
Die Angstgefühle verschwinden in Begleitung einer bekannten Person.
Westphal liefert die erste Falldarstellung einer Agoraphobie:
„Der Patient beklagt sich, daß es ihm unmöglich sei, über freie Plätze zu gehen. Es überfällt ihn bei dem Versuch dazu sofort ein Angstgefühl, dessen Sitz er auf Befragen mehr im Kopfe als in der Herzgegend angibt, indes ist auch oft Herzklopfen dabei. In Berlin ist ihm der Döhnhofsplatz mit am unangenehmsten; versucht er, denselben zu überschreiten, so hat er das Gefühl, als ob die Entfernung sehr groß, meilenweit sei, er nie hinüber kommen könne, und damit verbindet sich das erwähnte, oft von allgemeinem Zittern begleitete Angstgefühl... Dasselbe Angstgefühl überfällt ihn, wenn er genötigt ist, an Mauern und langgestreckten Gebäuden entlang oder durch Straßen zu gehen, wenn die Verkaufsläden – wie an Sonn- und Feiertagen oder in später Abend- und Nachtstunde – geschlossen sind. In später Abendstunde – er ißt gewöhnlich abends in Restaurationen – hilft er sich in Berlin in eigentümlicher Weise; entweder wartet er, bis er eine andere Person die Richtung nach seiner Wohnung einschlagen sieht und folgt dicht hinter derselben, oder er macht sich an eine Dame der ‚Halbwelt’, läßt sich in ein Gespräch mit ihr ein und nimmt sie so eine Strecke mit, bis er eine andere ähnliche Gelegenheit findet und so allmählich seine Wohnung erreicht.“
Die Agoraphobie wurde unter der Bezeichnung „Platzangst“ 1887 vom Psychiater Emil Kraepelin in die psychiatrische Krankheitslehre eingeführt. Bereits Freud wies auf die Entstehung der Agoraphobie als Folge von Panikattacken hin:
„Im Falle der Agoraphobie ... finden wir häufig die Erinnerung an eine Angstattacke; und was der Patient in Wirklichkeit fürchtet, ist das Auftreten einer solchen Attacke unter den speziellen Verhältnissen, in denen er glaubt, ihr nicht entkommen zu können.“
Das Aufsuchen der gefürchteten Plätze zur Therapie empfahl Westphal bereits 1872, Oppenheimer 1911 in seinem „Lehrbuch der Nervenkrankheiten“ und Freud 1919.
Symptomatik der Agoraphobie
Eine Agoraphobie umfasst eine Gruppe von Ängsten („multiple Situationsphobien“), die dann auftreten, wenn man die gewohnte oder schützende Umgebung verlässt (eigene Wohnung, bekannte und sichere Gegend, Zusammensein mit Vertrauenspersonen).
Es bestehen phobische Ängste, die Wohnung zu verlassen, Geschäfte zu betreten, sich in einer Menschenmenge oder auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten oder alleine in Zügen, Bussen oder Flugzeugen zu reisen.
Nach den ICD-10-Forschungskriterien besteht eine deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei von vier Situationen: Menschenmengen, öffentliche Plätze, allein Reisen, Reisen mit weiter Entfernung von zu Hause.
Die frühere Gegenüberstellung von Agoraphobie (Angst vor offenen Plätzen) und Klaustrophobie (Angst vor geschlossenen Räumen) ist überholt.
Als Agoraphobie gilt heutzutage alles, wo man sich in seinen Fluchtmöglichkeiten eingeschränkt fühlt: nicht nur Ängste vor offenen Plätzen, sondern auch Ängste vor öffentlichen Orten, Situationen und Menschenansammlungen, wo beim plötzlichen Auftreten einer unerwarteten oder durch die Situation ausgelösten Panikattacke oder ähnlichen, milderen Symptomen (Schwindel, Ohnmachtsangst, Herzrasen, Schwitzen, Verlust der Blasen-/Darmkontrolle usw.) eine Flucht schwierig oder peinlich wäre oder aber keine Hilfe verfügbar wäre.
Besonders Angst machend ist die Vorstellung, die Kontrolle über sich und die Körperreaktionen zu verlieren (Harn- oder Stuhldrang), in der Öffentlichkeit umzufallen und hilflos liegen zu bleiben oder der Reaktion der Umwelt ausgeliefert zu sein bzw. „durchzudrehen“ und „verrückt“ zu werden.
Phobische Situationen werden konsequent gemieden, wenn kein Fluchtweg in Aussicht ist, oder können nur unter großer Angst und Belastung durchgestanden werden.
Das Fehlen eines nutzbaren Fluchtweges ist ein Schlüsselsymptom der Agoraphobie.
Folgen der Angst sind Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und die Notwendigkeit einer Begleitperson außerhalb der Wohnung – oder die phobischen Situationen können nur unter intensiver Angst durchgestanden werden.
Manche Agoraphobiker erleben aufgrund ihres Vermeidungsverhaltens aktuell wenig Angst.
Das Vermeidungsverhalten führt oft zu einem totalen Rückzug in die eigene Wohnung und damit zur sozialen Isolierung. Doch auch zu Hause kann das Gefühl der Sicherheit verloren gehen.
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 ist eine Agoraphobie (F40.0) durch folgende Merkmale charakterisiert:
A. Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei der folgenden Situationen:
1. Menschenmengen
2. öffentliche Plätze
3. allein Reisen
4. Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause.
B. Seit Auftreten der Störung müssen in den gefürchteten Situationen mindestens zwei Angstsymptome aus der unten angegebenen Liste, davon eins der vegetativen Symptome 1. bis 4., wenigstens zu einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden gewesen sein:
Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).
Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:
5. Atembeschwerden
6. Beklemmungsgefühl
7. Thoraxschmerzen und -missempfindungen
8. Nausea oder abdominelle Missempfindungen (z.B. Unruhegefühl im Magen).
Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder „nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.
Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.
C. Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome; die Betroffenen haben die Einsicht, dass diese übertrieben oder unvernünftig sind.
D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder Gedanken an sie.
E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome des Kriteriums A. sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0), Schizophrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung (F42) oder sind nicht Folge von kulturell akzeptierten Anschauungen.
Das Vorliegen oder Fehlen einer Panikstörung bei der Mehrzahl der agoraphobischen Situationen wird im ICD-10 an der fünften Stelle kodiert: F40.00 ohne Panikstörung und F40.01 mit Panikstörung.
Orte werden auf einem Kontinuum von völlig sicher bis völlig unsicher beurteilt. Folgende Situationen werden gemieden oder mit Unbehagen ertragen, vor allem wenn sie ohne beschützende Begleitperson und ohne sonstige Sicherheitsstrategien wie etwa Medikamente oder Handy aufgesucht werden müssen und subjektiv keine Kontrolle über die befürchteten körperlichen Reaktionen besteht:
- Aufenthalt im Freien unter vielen Menschen oder bei fehlender Fluchtmöglichkeit: öffentliche Plätze überqueren, unbekannte Stadtteile aufsuchen, in überfüllten Fußgängerzonen bummeln, Gartenfeste, Volksfeste oder Messen besuchen, in einem Verkehrsstau stecken, mit dem Fahrrad in freier Landschaft fahren, mit dem Auto bei Nebel (d.h. ohne Sicht) fahren, durch einen längeren Tunnel fahren, mit dem Boot einen tiefen See überqueren, durch einen Badesee schwimmen, über eine Brücke gehen, einen Berg besteigen, durch einen Wald gehen. Vor großen, leeren Plätzen haben wegen fehlender Bewegungseinschränkung nur wenige Agoraphobiker Angst (davor fürchten sich vor allem Agoraphobiker mit Angstschwindelattacken, weil sie keine Möglichkeit haben, sich irgendwo festhalten zu können).
- Außerhäusliche Aktivitäten jeder Art, insbesondere berufliche oder private Reisen über die Stadt-, Bezirks-, Landes- oder Staatsgrenzen hinaus, Reisen in das anderssprachige Ausland sowie in unbekannte Gegenden weit weg von zu Hause (im Falle von körperlichen Beschwerden fehlen deutschsprachige Ärzte).
- Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel (Bus, Straßenbahn, U-Bahn, Eisenbahn, Flugzeug, Schiff, Sessellift, Aufzug, Rolltreppen) oder des eigenen Autos, besonders über längere Strecken.
- Aufenthalt in öffentlichen bzw. halb öffentlichen Räumen, besonders wenn diese überfüllt sind: Geschäfte, Kirchen, Kinos, Museen, Theater, Konzertsaal, Banken, Behörden, Krankenhäuser, Wartezimmer bei Ärzten, Gaststätten, Cafés, Diskotheken, betrieblicher Speisesaal, Kantine, Mensa, öffentliche Toiletten, Friedhöfe, Friseursalons, Umkleideräume in Kleidergeschäften, Schlange stehen in Geschäften und bei Behörden, Sauna, Hallen- oder Freiluftbäder, Arbeit in großen Büros, Hörsäle auf der Universität, Besuch von Elternsprechtagen in der Schule, Teilnahme bei Betriebsversammlungen, Sportveranstaltungen oder großen Feiern.
- Aufenthalt in engen, hohen, geschlossenen oder dunklen Räumen: Lifte, Räume ohne Fenster, geschlossene Toiletten oder Badezimmer, Diskotheken, Turnsäle, Kellerräume, Höhlen, unterirdische Gänge, Tunnelgänge, Bogengänge (Arkaden), Durchgänge und Passagen, Hochhausräume, Kirchtürme, Fernsehtürme, Treibhäuser, Ringelspielgeräte, dunkle Schlafzimmer, Einmannzelt, Aufenthalt allein mitten in einem großen Raum. Bei einer Liftphobie spricht die Angst vor dem Steckenbleiben oder Ersticken für eine Agoraphobie, die Angst vor den Blicken anderer für eine Sozialphobie, die Angst vor dem Abstürzen des Lifts für eine Höhenphobie.
- Vereinbarung von Treffen mit anderen Leuten unter „unsicheren“ Bedingungen.
Viele Agoraphobiker können zahlreiche der genannten Situationen aufsuchen, wenn sie dies plötzlich und vorher nicht lange geplant tun müssen.
Wenn die betreffenden Aktivitäten jedoch bereits seit Tagen feststehen, werden die Erwartungsängste oft derart groß, dass angesichts zunehmender vegetativer Beschwerden eine Bewältigung unmöglich ist.
Die Angst vor der Angst zwingt viele Betroffene dazu, zahlreiche Aktivitäten (Ausflug, Theaterbesuch usw.) schon lange im Voraus detailliert zu planen.
Gefahrvolle Vorstellungen, Grübeleien und Nervosität (Aufgeregtheit und körperliche Angespanntheit) bestimmen die Zeit bis zum geplanten Ereignis.
Die Erwartungsangst ist meistens viel schwerer zu bewältigen als das tatsächliche Ereignis, das dann durchaus als angenehm erlebt werden kann. Diese Erfahrung verhindert jedoch nicht, dass die Betroffenen vor der nächsten ähnlichen Situation wiederum beunruhigt und besorgt sind. Angesichts von Restrisiken sind bestimmte Sicherheitssignale (z.B. Handy) von zentraler Bedeutung.
Wichtigste Auslöser für agoraphobische Ängste sind die Entfernung von „sicheren“ Orten und das Fehlen eines Fluchtwegs. Es besteht ein subjektives Gefühl der Einengung der Bewegungsfreiheit („in der Falle sitzen“) sowie eine starke Angst, anderen Menschen ausgeliefert zu sein.
Dies erklärt folgende Sicherheitsverhaltensweisen:
- Verkehrsmittel, Lokale, Kinos und verschiedene Säle können betreten werden, jedoch nur dann, wenn der Aufenthalt in der Nähe der Tür möglich ist, um jederzeit fliehen zu können.
- Fahrten mit dem Regionalzug können durchgeführt werden, nicht jedoch mit dem Schnellzug, der nur selten stehen bleibt.
- Fahrten in halb leeren Verkehrsmitteln sind möglich, nicht jedoch in Zügen, Bussen, U-Bahnen oder Straßenbahnen unter vielen Leuten.
- Öffentliche Verkehrsmittel können nicht benutzt werden, sehr wohl jedoch das eigene Auto, das Schutz und Freiheit gewährt.
- Beim Autofahren ist das Sitzen vorne problemlos möglich, nicht jedoch hinten, wenn es sich um ein zweitüriges Auto handelt.
- Selbst mit dem Auto zu fahren, ist leicht möglich, als Beifahrer mitzufahren, dagegen nur erschwert möglich (wegen des Gefühls, dem anderen ausgeliefert zu sein, bzw. wegen der ständigen Gedanken an mögliche Gefahren statt der Beobachtung des aktuellen Verkehrsgeschehens, wie dies bei Fahrten als Lenker der Fall ist).
- Autofahren ist grundsätzlich möglich, nicht jedoch in folgenden Situationen: auf der Autobahn, wo Stehenbleiben, Umdrehen und rasches Abfahren ausgeschlossen ist; durch einen Tunnel, der bei Gefahr kein Entkommen erlaubt; in einer Autokolonne, wo die hilflose Eingeengtheit gefürchtet wird. Gefürchtet werden Situationen, wo der Verkehrsfluss zum Erliegen kommt („in der Falle sitzen“): Staus, Halt vor einer roten Ampel bei einer Kreuzung. Autounfälle wegen Panikattacken sind unbekannt.
- Weite Reisen können trotz Beschwerlichkeit mit dem Auto oder mit der Bahn durchgeführt werden, nicht jedoch mit dem Flugzeug, das keinen Ausstieg erlaubt.
- Die Reise in die Ferne ist aufgrund von Erwartungsängsten belastender als die Rückkehr in die Sicherheit gebende Heimat.
- Man kann wohl Räume und Geschäfte betreten, nicht jedoch beim Friseur oder beim Zahnarzt Platz nehmen, weil Flucht nicht jederzeit möglich ist.
- Man kann wohl in Geschäfte einkaufen gehen, jedoch nur dann, wenn wenige Leute drinnen sind und keine Schlange bei der Kasse zu erwarten ist.
- Man kann wohl in ein Selbstbedienungsrestaurant gehen, wo das Essen sofort eingenommen werden kann, nicht jedoch in ein exklusives Restaurant, wo man vielleicht lange auf das bestellte Essen warten muss.
- Man kann wohl ein Restaurant zu ebener Erde besuchen, nicht jedoch unter der Erde oder in einem höheren Stockwerk.
- Man kann wohl in einem Wohnblock unter vielen Menschen wohnen, jedoch nur im Erdgeschoss, weil man bei Gefahr keinen Lift benötigt und rasch das Haus verlassen kann.
- Man fürchtet einerseits den Aufenthalt unter fremden Menschen, spricht jedoch andererseits bei beginnender Panik dieselben Menschen an, um sich entweder abzulenken, sich nicht allein zu fühlen oder sich deren Hilfe für den Notfall zu sichern.
- Man kann zu Hause nur mit der Badehose baden oder duschen, damit man im Falle einer Panikattacke nicht nackt aus dem Bad oder gar aus der Wohnung laufen muss.
Eine Agoraphobie kann mit oder ohne Panikstörung auftreten. Eine Panikattacke in einer eindeutig phobischen Situation macht noch keine Panikstörung aus, sondern zeigt den Schweregrad einer Phobie an.
Im klinischen Bereich weisen die meisten Agoraphobiker auch Panikattacken auf, während diese Kombination in großen Untersuchungen der Durchschnittsbevölkerung nur bei etwa der Hälfte der Agoraphobiker gegeben war (ein Teil der „Agoraphobiker“ hat jedoch laut Nachuntersuchungen eher eine spezifische Phobie als eine Agoraphobie).
Rückfälle bei Agoraphobie hängen häufig mit dem Auftreten von einer oder mehreren erneuten Panikattacken zusammen.
Belastend ist der Umstand, dass die agoraphobische Symptomatik oft schwankend ist, ohne dass die Betroffenen einen roten Faden erkennen können. Einmal sind dieselben Situationen leichter, einmal schwerer zu bewältigen, je nachdem, ob es sich um einen „guten“ oder „schlechten“ Tag handelt. Diese Schwankungen sind eine Quelle der Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Hilflosigkeit vieler agoraphobischer Patienten.
Die Diagnose einer phobischen Störung kann selbst Fachleuten dann schwer fallen, wenn z.B. Agoraphobiker primär von Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch oder von depressiven Symptomen berichten (besonders nach langer primär phobischer Symptomatik), weil sie wenig Angst erleben infolge der Vermeidung der phobischen Situationen und der Überlagerung durch die genannten Störungen.
Das Erleben verstärkter Ängste im Rahmen einer Konfrontationstherapie ist positiv zu bewerten.
Mit vielen Tricks durch den Alltag
Agoraphobiker wenden eine Fülle von Tricks an, die der Umwelt gar nicht auffallen, um das Leben bewältigen zu können. Auf diese Weise können Agoraphobiker ihre Beeinträchtigung oft jahrelang verbergen. Es bleibt jedoch ein „Leben auf der Flucht“.
Heiße oder schwüle Witterungsbedingungen sind für viele agoraphobische Patienten belastender als für andere Menschen. Mit der Begründung körperlicher Beschwerden (z.B. Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme, Übelkeit) wird daher zu diesen Zeiten das Haus oft gar nicht verlassen. Hitzegefühle gehen oft mit Ohnmachtsängsten einher.
Die erste Panikattacke tritt viel eher im Sommer als im Winter auf, wie eine Untersuchung in Australien ergab (bei 57% im Sommer, nur bei 11% im Winter). Nach einer englischen Studie verschlechterte sich bei 35% der Patienten die Agoraphobie, wenn es draußen heiß war.
Viele Agoraphobiker vermeiden daher überhitzte Räume und Einkaufszentren und bevorzugen lieber kühlere Temperaturen. Helles Sonnenlicht, Neonlicht und flackernde Leuchtreklamen stellen oft belastende Reizsituationen dar, weshalb manche Angstpatienten gerne Sonnenbrillen oder dunkle Gläser tragen.
Als Folge der Atemnot bei einer Panikattacke bzw. einer erhöhten Kohlendioxid-(CO2)-Sensibilität achten viele Patienten darauf, zur Sicherung der Zufuhr frischer Luft stets das Fenster im Büro sowie im Wohn- und Schlafzimmer geöffnet zu haben. Verschiedene Agoraphobiker schlafen selbst im Winter bei offenem Fenster.
Das Verlassen des Raumes bei Agoraphobie dient oft nur dem „Luftschnappen“, obwohl es vielleicht mit dem Besuch der Toilette oder mit dem Rauchen auf dem Gang begründet wird. Es kann sein, dass der Bedarf an Frischluft offen zugegeben wird, jedoch mit einer asthmatischen Reaktionsbereitschaft begründet wird. Aus Angst vor zu wenig frischer Luft bzw. aus Angst vor geschlossenen Fenstern und Türen kann oft auch kein vollbesetzter Kino-, Konzert- oder Gasthaussaal betreten werden.
Frauen mit einer Agoraphobie können sehr gastfreundlich wirken, während sie oft nur deshalb immer wieder Leute einladen, weil sie nicht allein sein können. Wenn der Partner aus beruflichen Gründen einen Auslandsaufenthalt antreten muss, werden z.B. Kinder aus der Verwandtschaft zum Übernachten eingeladen, ohne dass diese etwas von ihrer Beschützerfunktion ahnen.
Eine agoraphobische Mutter kann ihr Kind unter verschiedenen Vorwänden sogar von der Schulpflicht abhalten, um der Einsamkeit zu entkommen, oder könnte ihr Kind wohl in die Schule bringen, danach aber nicht mehr alleine nach Hause fahren, sodass eine andere Person sich um den Schulbesuch des Kindes des Kindes kümmern muss.
Bestimmte Sicherheitssignale reduzieren die Angst, ihr Fehlen kann bereits Angst auslösen. Sicherheit gibt die Anwesenheit anderer Personen: der Partner oder ein Elternteil an der Seite, das Kind an der Hand, Bekannte in erreichbarer Nähe. Selbst der Hund an der Leine vermittelt schon das Gefühl, im Ernstfall nicht ganz alleine zu sein.
Angst abbauend wirkt auch die Mitnahme eines Beruhigungsmittels, eines Handys oder eines Wasserfläschchens (Trinken beseitigt Mundtrockenheit, Übelkeit oder ein Engegefühl in der Kehle), etwas zum Festhalten (Spazierstock, Regenschirm, Kinderwagen, Fahrrad), die räumliche Nähe eines Krankenhauses oder einer Arztpraxis, die Telefonnummer des nächsten Dienst habenden Arztes am Wochenende oder das Wissen um die ständige Erreichbarkeit bestimmter Angehöriger zumindest über das Handy. Das Wissen, dass der Hausarzt auf Urlaub gehen wird, kann so beunruhigend wirken, dass umfangreiche Vorsorgemaßnahmen getroffen werden müssen.
Die häufige Angst, beim Gehen umzufallen, wird schon reduziert durch die Nähe einer Hausmauer, die bei Bedarf einen gewissen Halt gewährt. Dies ist der Grund, warum enge Gassen oft eher gemocht werden als weite Straßen und offene Plätze.
Chronischer Schwindel führt oft zu ständiger Angst vor einer Ohnmacht in der Öffentlichkeit. Der Schwindel wird als Kreislaufschwindel fehlinterpretiert, während es sich tatsächlich meistens um einen verspannungsbedingten Schwindel (aufgrund massiver Schulter-Nacken-Verspannung) oder um einen subklinischen vestibulären Schwindel handelt.
Menschen mit Agoraphobie fühlen sich oft schwindlig und unsicher auf den Beinen, der Boden scheint zu wanken und nicht ausreichend stabil zu sein. Man hat den Eindruck, auf Wolle zu gehen oder zu schweben, ohne sichere Bodenhaftung.
Viele Betroffene haben die Befürchtung, nach dem Umfallen hilflos auf dem Boden liegen bleiben zu müssen, nicht selbst aufstehen zu können und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, die im Bedarfsfall vielleicht nicht einmal verlässlich genug erfolgen würde.
Besonders demütigend und erniedrigend wirkt die Vorstellung, den Blicken einer gaffenden Menge ausgesetzt zu sein, während man regungslos auf dem Boden liegt.
Agoraphobiker befinden sich oft in einem Dilemma: Einerseits leben sie in starker Abhängigkeit von anderen, andererseits fürchten sie nichts so sehr wie gerade dies.
Beruhigungsmittel (Tranquilizer) werden oft wie ein Talisman mitgeführt, obwohl man aus Angst vor Abhängigkeit derartige Medikamente überhaupt nicht einnehmen möchte. Dabei reichen häufig nicht 1-3 Tabletten, sondern es muss gleich die halbe Packung in einer Tasche griffbereit sein, vielleicht auch noch ein anderes Medikament. Bei Einnahme von Tranquilizern wirken diese nach Meinung der Betroffenen oft sofort, obwohl die volle Wirksamkeit erst nach 30-60 Minuten erreicht wird.
Eine sofortige Medikamentenwirkung beruht auf einem Placeboeffekt, sodass es für viele Agoraphobiker eigentlich egal ist, was sie einnehmen. Hauptsache ist, dass bei Bedarf etwas geschluckt werden kann, und wenn es sich dabei nur um Kreislauftropfen, Baldrianpillen oder ein stärkendes Getränk handelt.
In Zeiten des Misstrauens gegen Psychopharmaka erfüllen „natürliche“ Mittel oft denselben Effekt. Beliebt sind auch Kaugummi-Kauen und Bonbon-Lutschen, um einen trockenen Mund und damit Schluckbeschwerden zu verhindern. Vertrauen in unsicheren Situationen schaffen jedenfalls nur verschiedene Mittel und nicht die eigenen Bemühungen.
Die Entdeckung, die hilfreichen Tabletten vergessen zu haben, kann bereits Panik auslösen, obwohl vorher kein Grund dazu bestand. Auch Jahre nach der Überwindung der das Leben stark einengenden Agoraphobie gehen viele Betroffene sicherheitshalber nur mit Tabletten in der Hand- oder Aktentasche von zu Hause fort.
Eine 19-jährige Patientin mit Panikstörung und Agoraphobie ließ sich von ihrem Freund zur ersten Therapiestunde bei mir begleiten, ohne dass er selbst an der Therapie teilnehmen sollte – eine vielen Psychotherapeuten recht bekannte Situation. Die Patientin erklärte, sie leide schon seit 4 Jahren unter Panikattacken. Diese hätten begonnen, als sie mit 15 Jahren in eine familieneigene Garçonniere gezogen sei, weil sie die ständigen Streitereien der Eltern satt gehabt habe. Es wurde deutlich, dass sie, die recht Vater bezogen gelebt hatte, das Alleinsein nicht ertragen konnte. Eine frühere Familientherapie sowie das Erlernen des autogenen Trainings hatten nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, wie eine im Vergleich zu einer Psychoanalyse von ihr als recht oberflächlich beurteilte Verhaltenstherapie ihre mehrjährige Störung wirksam beseitigen könnte. Ich schätzte die Patientin in der ersten Stunde so ein, dass sie zu keiner längeren Therapie kommen würde, und unternahm daher ein etwas gewagtes Experiment. Ich erzählte ihr, dass ich ein Geheimnis von ihr wüsste, das nicht einmal ihrem Freund bekannt sei. Die Patientin war sehr verwundert und wollte es wissen. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich es ihr erst in der zweiten Therapiestunde mitteilen könnte, wenn sie dazu allein, ohne Freund, komme. Die Patientin wies darauf hin, dass sie nicht allein mit Straßenbahn und Bus unterwegs sein könne und daher in diesem Fall nicht zur Therapiestunde erscheinen könnte. Ich bestand auf meinem Vorgehen, die Patientin war derart neugierig, dass sie zur nächsten Stunde tatsächlich allein kam. Sie war darüber selbst sehr verwundert und meinte, dass es wohl das Geheimnis sei, man müsse sich nur anstrengen, dann könne man auch die größten Ängste überwinden. Ich bestärkte sie in dieser Erkenntnis, gab ihr allerdings zu verstehen, dass dies nicht das gemeinte Geheimnis sei. Ich fragte sie, ob sie bereit sei, ihre Handtasche auf der Stelle umzudrehen und zu öffnen, sodass alles herausfalle, was drinnen sei. Die Patientin wollte dies anfangs nicht tun, war dann aber doch dazu bereit. Auf dem Tisch lagen neben den üblichen Utensilien Tablettenpackungen mit insgesamt 136 Stück von 8 verschiedenen Sorten (mehrheitlich Tranquilizer). Das war das Geheimnis: so viele Tabletten benötigte sie, um ohne Freund zu mir zu kommen, d.h. in bestimmten Situationen ist der Freund durch Medikamente ersetzbar. Ich bat sie, bis zum nächsten Mal nur so viele Medikamente nach Hause mitzunehmen, wie sie benötigte. Sie nahm 40 Stück von 4 verschiedenen Sorten mit. Und dies, obwohl sie aus Angst vor Abhängigkeit keine Beruhigungsmittel einnahm.
Agoraphobiker müssen vor allem eines erkennen und erleben: Wenn sie sich vor sich selbst, vor den eigenen körperlichen Reaktionen oder vor einem Kontrollverlust nicht mehr fürchten, sondern damit umgehen können, fürchten sie sich auch nicht mehr vor bestimmten Örtlichkeiten und Menschenansammlungen, denn die Agoraphobie besteht aus der Angst, aus einer „Falle“ allein nicht mehr herauszukommen.
Auslösefaktoren einer Agoraphobie
Auslöser einer Agoraphobie sind in der Regel länger dauernde belastende oder traumatische Stresszustände, die oft zur ersten Panikattacke oder zu einer panikähnlichen Symptomatik führen, in deren Folge häufig eine Agoraphobie auftritt.
Agoraphobiker unterscheiden sich von anderen Personen weniger durch die Art der ersten Reaktion auf eine real belastende Lebenssituation als vielmehr durch den Umstand, dass diese Reaktion beibehalten bzw. unangemessen generalisiert wird. Anstelle neuer effizienter Strategien wird bevorzugt die Möglichkeit zur Flucht genutzt.
Bei näherer Betrachtung ist zumindest für einen Psychotherapeuten oft erkennbar, dass das Schicksal einer Panikattacke mit einer daraus resultierenden Agoraphobie trotz der Belastung einem sinnvollen Zweck dient, nämlich einem ersten, wenngleich auf Dauer ungenügenden Lösungsversuch einer vorhandenen Konfliktsituation.
Eine Agoraphobie schafft häufig eine Pattsituation in einem anderen Bereich (Partnerschaft, Beruf u.a.), in dem eine Problemlösung ansteht.
Einige Beispiele sollen die Entwicklung einer Agoraphobie verdeutlichen, die meistens mit einer Panikattacke oder panikähnlichen Erfahrung beginnt und im Laufe der Zeit durch die Erwartungsängste zu einer immer größeren Einschränkung des Bewegungsspielraums führt.
Ein Mann ist durch einen relativ harmlosen Autounfall während eines Außendienstes schwer geschockt. Innerhalb von zwei Wochen entwickelt er eine typisch agoraphobische Vermeidungshaltung. Er kann über Monate kein Auto oder öffentliches Verkehrsmittel benutzen und damit auch seinen Beruf nicht ausüben. Im Freizeitbereich kann er seine Funktion als Fußballtrainer nicht mehr wahrnehmen, weil er weder zum Training noch zu den Spielen in verschiedene Städte fahren kann. Seinen Bekannten erzählt er nichts von seinen Ängsten, sondern gibt als Grund für sein Verhalten Kopf- und Rückenschmerzen infolge des Unfalls an. Rückblickend gesehen war er schon seit langem durch seine zahlreichen Aktivitäten überfordert.
Ein höherer Angestellter, der früher jahrelang Alkoholmissbrauch betrieben und in diesem Zusammenhang auch die Gattin durch Scheidung verloren hatte, bekommt nach anfänglich gutem Verlauf seiner neuen Partnerschaft die Angst, seine Freundin könnte ihn verlassen, weil er beruflich ständig im Ausland unterwegs ist. Bei einem Flug nach Asien erlebt er eine Panikattacke, sodass er nach der Landung sofort nach Hause zurückkehrt, um sich stationär untersuchen zu lassen. Aufgrund seiner Erwartungsängste vor einer weiteren Panikattacke kann er keine Auslandstätigkeiten mehr übernehmen, was der Freundin anfangs durchaus recht ist. Als er aus gleichem Grund auch keine Urlaubsreisen mehr antreten kann und ein bereits gebuchter Flug deshalb kostspielig storniert werden muss, gerät die Partnerschaft neuerlich in die Krise, weil er zu wenig mit seiner Partnerin unternehmen kann. Innerhalb eines Monats entwickelt er eine ausgeprägte Agoraphobie, sodass er im Gegensatz zu früher vieles nicht mehr allein unternehmen kann. Er ist nur beruhigt, wenn er seine Freundin in der Nähe weiß. Die Trennungsgefahr ist vorläufig gebannt, weil ihn die Partnerin als krank akzeptiert.
Ein Jugendlicher im Alter von 17 Jahren lebt in ständigem Streit mit den Eltern, weil er nach mehreren selbstverschuldeten Arbeitsplatzverlusten noch immer keiner geregelten Arbeit nachgeht und auch im Haushalt nicht mithilft. Nach einer heftigen Auseinandersetzung muss er schließlich ausziehen und in einem Untermietzimmer wohnen, das vorläufig seine Eltern bezahlen. Er geht dann abends oft fort und nimmt an Rave-Partys teil, wo er mehrfach die aufputschende Droge Ecstasy einnimmt. Nach dem dritten Gebrauch bekommt er auf dem Heimweg plötzlich eine Panikattacke, sodass er nicht mehr alleine in seinem Zimmer leben kann und auch nicht mehr fähig ist, eine Arbeit zu suchen. Er zieht sich bald auch von seinem früheren Bekanntenkreis zurück, weil er wegen seiner Erwartungsängste keine Lokale mehr aufsuchen kann und auch an den üblichen Aktivitäten Jugendlicher nicht mehr teilnehmen kann. Wohl oder übel nehmen ihn seine Eltern in ihrem Haus wieder auf unter der Bedingung, dass er sich behandeln lässt.
Eine hochschwangere Frau mit einer konfliktreichen Partnerschaft fällt bei sommerlicher Hitze auf der Straße beinahe ohnmächtig um. Sie kann dies gerade noch rechtzeitig verhindern. Einige Monate später fährt sie mit dem Kinderwagen an derselben Stelle vorbei, erinnert sich an das frühere Ereignis und kann plötzlich aus Angst umzufallen nicht mehr allein mit dem Kind unterwegs sein, weil dieses auf die Straße laufen könnte, wenn sie ohnmächtig werden sollte.
Eine junge Mutter geht an einem heißen Sommertag mit ihrem fünfjährigen Sohn, der schon recht unruhig und lästig wird, eine dicht bevölkerte Einkaufsstraße entlang, als ihr plötzlich schwindlig und übel wird. Sie bekommt Herzrasen und Ohnmachtsangst, was sich einige Zeit später, als sie in derselben Straße allein unterwegs ist, in ähnlicher Weise wiederholt, sodass sie ohne Begleitung einer anderen Person nicht mehr das Haus zu verlassen wagt.
Eine Frau möchte die ungeliebten Schwiegereltern nicht jedes Wochenende zusammen mit dem noch recht mutterabhängigen Gatten besuchen, was zu ständigen Ehestreitigkeiten führt. Dieser unlösbare Konflikt findet nach einem Monat ein plötzliches Ende, weil die Frau nach einer Panikattacke in einem überfüllten Restaurant, die sich einige Zeit später beim Friseur wiederholt, das Haus überhaupt nicht mehr verlassen kann (und damit auch nicht mehr die Schwiegereltern zu besuchen braucht, was vorerst von keinem der beiden Partner bewusst wahrgenommen wird).
Eine 20-jährige, ehrgeizige Studentin möchte eine Prüfung bestehen, bei der erfahrungsgemäß zwei Drittel durchfallen. Sie hat die letzte Nacht wenig geschlafen und am Morgen wegen der Aufregung nichts gegessen. Auf dem Weg zur Universität bekommt sie plötzlich in einer überfüllten Straßenbahn eine Panikattacke, sodass sie unverzüglich zum Arzt geht, der sie zur Untersuchung in ein Krankenhaus einweist. Außer dem ohnehin bereits bekannten niedrigen Blutdruck wird dort nichts Auffälliges gefunden, sodass sie nach drei Tagen wieder entlassen wird. Zwei Monate später bekommt sie während einer Vorlesung eine neuerliche Panikattacke, die dazu führt, dass sie das Studium für einige Monate unterbricht, weil sie weder eine Straßenbahn benutzen noch in einem Hörsaal sitzen kann.
Eine Frau denkt nach siebenjähriger Ehe an Scheidung, weil sie sich von ihrem Gatten vernachlässigt fühlt. Sie erlebt, dass sie mit anderen Menschen besser über persönliche Dinge reden kann als mit ihrem Partner, und geht daher öfter als früher zusammen mit Freundinnen abends fort, weil der Partner aus beruflichen Gründen abends ebenfalls oft nicht zu Hause ist. Nach einiger Zeit bekommt sie plötzlich in einem Lokal eine Panikattacke, wodurch sie so verängstigt ist, dass sie ohne ihren Gatten nicht mehr fortzugehen wagt und ihre Scheidungsgedanken aufgibt, weil sie nicht allein leben kann. Sie ist innerhalb der nächsten Wochen wegen einer sich entwickelnden Agoraphobie nicht einmal fähig, den Arbeitsplatz aufzusuchen, was die Voraussetzung dafür wäre, sich allein erhalten zu können.
Eine früher beruflich recht erfolgreiche Frau hat zugunsten der optimalen Erziehung ihrer beiden Kinder (5 und 7 Jahre alt) auf die weitere Berufstätigkeit verzichtet. Dennoch fühlt sie sich zu Hause in zunehmendem Ausmaß unerfüllt und überlegt, eine Halbtagsarbeit anzunehmen. Der Gatte ist dagegen, sie hat auch Bedenken, ob sie Beruf, Haushalt und Kindererziehung erfolgreich verbinden kann. Die Sache ist entschieden, als sie nach einer Panikattacke in einem Bus, die sich drei Wochen später in einer überfüllten Straßenbahn wiederholt, kein öffentliches Verkehrsmittel mehr besteigen und infolgedessen auch zu keinem Arbeitsplatz in der 10 km entfernten Stadt fahren kann. Sie hat sogar Schwierigkeiten, ihre Kinder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel in den Kindergarten bzw. in die 1. Klasse der Volksschule zu bringen.
Eine Frau entwickelt nach einer längeren familiären Belastungssituation zuerst eine Panikattacke im Bus zur Arbeit und anschließend eine ausgeprägte Agoraphobie. Sie ist betroffen durch die Krebserkrankung ihrer Mutter vor einem Jahr, überfordert durch die Betreuung eines leicht behinderten Kindes und verärgert über die häufige Abwesenheit ihres Gatten aus sportlichen Gründen (im Sommer Fußballtrainer, im Winter extreme Schitouren mit Arbeitskollegen, was ihr zusätzlich Angst und Unruhe bereitet). Im Laufe der Zeit kann sie bald nichts mehr allein unternehmen aus Angst vor einer Panikattacke. Die Berufstätigkeit kann nur mehr aufrechterhalten werden, indem sie der Gatte mit dem Auto zur Arbeitsstelle bringt und von dort auch wieder abholt. Ihr fünfjähriger Sohn muss von der Mutter eines anderen Kindes in den Kindergarten mitgenommen werden, weil sie sich nicht mehr mit der Straßenbahn zu fahren wagt.
Eine geschiedene Frau, die ihre drei Kinder ohne Unterstützung durch einen Partner erziehen muss, steht nach einem anstrengenden Arbeitstag noch unter dem Druck, vor Geschäftsschluss die nötigen Einkäufe zu erledigen. Im Supermarkt bekommt sie in der Warteschlange bei der Kassa plötzlich eine Panikattacke, die von den Umstehenden registriert wird. Sie möchte am liebsten davonlaufen, kann aber nicht, weil sie die Lebensmittel im Einkaufswagen für das Abendessen benötigt. Von da an kann sie nicht mehr einkaufen gehen, sodass ihr die größere Tochter diese Arbeit abnehmen muss.
Eine 45-jährige Frau leidet schon seit längerem unter der ehelichen Untreue ihres Gatten und der übermäßigen Belastung am Arbeitsplatz. Die Firma, in der sie seit 15 Jahren arbeitet, steht wirtschaftlich schlecht da, kündigte verschiedene ältere Arbeitnehmer und fordert von den verbleibenden Arbeitskräften großen Einsatz bei relativ schlechter Bezahlung. Nach einem Streit mit der Vorarbeiterin, der die durchaus selbstbewusste Patientin Unfähigkeit und Ungerechtigkeit vorwarf, tritt plötzlich in der Kantine eine Panikattacke auf, sodass die Patientin sofort den Arzt aufsucht und für einen Monat wegen einer Erschöpfungsdepression krankgeschrieben wird. Der Krankenstand bringt keine Erleichterung, vielmehr entwickelt die Patientin im Laufe der Zeit eine ausgeprägte Agoraphobie, sodass sie nicht einmal einkaufen gehen und damit auch nicht mehr kochen kann. Ihre geschiedene und seither allein lebende Schwester zieht zu ihr in das Haus (in das leer stehende Kinderzimmer) und hilft ihr bei der Haushaltsführung, nimmt ihr gut gemeint alles ab und verstärkt damit die Agoraphobie der Patientin.
Epidemiologie, Verlauf und Folgen der Agoraphobie
In Deutschland kommt eine Agoraphobie bei 5,7% der Bevölkerung im Laufe des Lebens, bei 3,6% innerhalb der letzten 6 Monate und bei 2,9% innerhalb des letzten Monats vor.
Zwei umfangreiche Studien stammen aus den USA: Die repräsentative NCS-Studie fand in den 1990er-Jahre eine Agoraphobie mit und ohne Panikstörung lebenszeitbezogen bei 6,7% (9,0% der Frauen, 4,1% der Männer) und innerhalb des letzten Monats bei 2,3% (3,1% der Frauen, 1,4% der Männer).
Laut Nachuntersuchungen weist die Mehrzahl der „Agoraphobiker“ eine spezifische Phobie auf. Bei 55,4% der Betroffenen ist die Agoraphobie sekundär in dem Sinn, dass vorher bereits eine andere psychische Störung bestand, ohne dass allerdings Aussagen über einen kausalen Zusammenhang gemacht werden können.
Ohne Panikstörung trat eine Agoraphobie lebenszeitbezogen bei 5,3% und innerhalb der letzten 12 Monate bei 2,8% der Bevölkerung auf. 21,6% der befragten Agoraphobiker nehmen lebenslänglich Medikamente gegen ihre Angst.
Die neuere NCS-R-Studie zehn Jahre später ermittelte aufgrund präziseren Erhebungskriterien eine Agoraphobie ohne Panikstörung lebenszeitbezogen bei 1,4% und innerhalb der letzten 12 Monate bei 0,8% sowie eine Panikstörung mit Agoraphobie lebenszeitbezogen bei 1,1% der US-Amerikaner.
In klinischen Behandlungseinrichtungen weisen fast alle Personen mit Agoraphobie (95%) aktuell oder in der Vorgeschichte auch die Diagnose einer Panikstörung auf. Dies zeigt auf, dass die Behandlungsbedürftigkeit der Agoraphobie aus den nicht bewältigbar erscheinenden Panikattacken resultiert. In der Bevölkerung findet man eine größere Zahl von Personen mit einer Agoraphobie ohne Panikstörung.
Eine Agoraphobie beginnt bei rund 90% der Patienten mit einer Panikattacke außer Haus. Plötzlich, unerwartet und unerklärlich kommt es zu massiven vegetativen Beschwerden: Herzrasen, Atemnot, Schwindelgefühle, Ohnmachtsangst, Übelkeit, Schwächegefühl in den Beinen usw. Eine Agoraphobie entwickelt sich meistens erst Monate nach der ersten Panikattacke. Wenn nach der ersten Panikattacke längere Zeit keine zweite folgt, kommt es trotz der Dramatik des Erlebten meist zu keiner Einschränkung des Bewegungsspielraums.
Oft schon nach dem zweiten oder dritten Angstanfall beginnt sich der Aktionsradius zunehmend einzuengen, obwohl die durchgeführten Untersuchungen keinen organischen Befund ergaben.
Der Schweregrad einer Agoraphobie lässt sich weder durch die Intensität noch durch die Häufigkeit von Panikattacken ausreichend vorhersagen, viel besser dagegen durch die Angst vor bestimmten agoraphobischen Situationen.
Nach einer Wiener Studie lässt sich aus dem Auftreten von Gefühlen der Peinlichkeit bei der ersten Panikattacke eine spätere Agoraphobie vorhersagen.
Verschiedene Betroffene versuchen anfangs ihre Ängste durch gezieltes Aufsuchen der gefürchteten Situationen zu bewältigen, die auftretenden Symptome werden dabei jedoch so stark, dass sie glauben, diesen nur durch Flucht entkommen zu können.
Das plötzliche Nachlassen der vegetativen Beschwerden bei Verlassen der Angst machenden Situation verstärkt die weitere Fluchtbereitschaft, bis schließlich aus Resignation vor der nicht möglichen Kontrolle der Symptome entsprechende Situationen überhaupt nicht mehr aufgesucht werden.
Die Betroffenen fürchten sich eigentlich nicht vor verschiedenen Orten und Situationen, sondern davor, dass unter diesen Umständen die ihnen gut bekannten Symptome in unkontrollierbarer Weise auftreten könnten, d.h. sie fürchten sich letztlich vor ihrem Körper.
Die Angst vor einer erneuten Panikattacke ohne Aussicht auf Kontrolle führt zur Vermeidung von immer mehr Alltagsaktivitäten.
Unbehandelt bleiben Agoraphobien oft für immer oder zumindest über viele Jahre bestehen. Eine spontane Heilung (Remission) tritt nur bei 38% auf.
Nach über einjähriger Dauer der Angststörung sind Spontanheilungen sehr selten, wie die Münchner Verlaufsstudie für die BRD ergeben hat. Patienten mit gemischten Angst- und Depressionssyndromen haben unbehandelt eine schlechtere Prognose als solche mit reinen Angststörungen oder reinen Depressionen.
Der typische Problemlösungsmechanismus von Menschen mit Agoraphobie besteht im Vermeiden Angst machender Situationen.
Das Ausweichen vor der Angst verhindert die Erfahrung, dass die gefürchtete Situation gar nicht gefährlich und relativ leicht bewältigbar ist. Mangelnde positive Erfahrungen im Umgang mit anfangs unbekannten oder unberechenbaren Situationen führen zu immer größerem Meidungsverhalten.
Es erfolgt eine Generalisierung, d.h. eine Ausweitung der Angst auf ähnliche Situationen bis hin zur lebenseinengenden Behinderung. Selbstbewusstsein und Zukunftshoffnung schwinden derart, dass Betroffene, Außenstehende und Ärzte schließlich nicht mehr wissen, ob aus hemmender Angst, antriebslähmender Depression oder beidem die schützende Wohnung nicht mehr verlassen werden kann. Es kommt zu einem Teufelskreis: eine nicht bewältigbare Agoraphobie führt zu einer Depression, die wiederum die Phobie verstärkt, sodass ein chronischer Verlauf wahrscheinlich wird.
Im Querschnitt, d.h. aktuell, erscheinen Menschen mit ausgeprägter Agoraphobie oft als Patienten mit schwerer Depression, im Längsschnitt, d.h. im Lebensverlauf, besteht dagegen eine chronische Angstsymptomatik, angesichts der die Betroffenen resigniert haben. Den aufgesuchten Ärzten bietet sich meist das Bild einer reinen Depression, sodass Antidepressiva verabreicht werden.
Die Einnahme von Antidepressiva ist oft sinnvoll, auch dann, wenn sich die depressive Symptomatik als Folge einer unbewältigbaren Angstsymptomatik herausstellen sollte. Die Verbesserung des Antriebs ermöglicht erst ein Angstbewältigungstraining. Sollten die Antidepressiva nicht nur die Depression, sondern auch die Ängste beseitigen, dann ist eher anzunehmen, dass die Ängste auf einer depressiven Episode beruhten.
Agoraphobikern erscheint ihr Verhalten selbst als unsinnig und peinlich, sodass sie die wahren Gründe anfangs auch vor Bekannten und Verwandten verbergen, indem sie Ausreden für ihr Vermeidungsverhalten gebrauchen (Kreislaufbeschwerden, Übelkeit, Kopfschmerzen, Lustlosigkeit u.a.).
Wenn die Störung im Angehörigenkreis bekannt wird, erleben die Betroffenen anfangs oft erstaunlich viel Nachsicht und Unterstützung.
Durch eine ausufernde Agoraphobie wird im Laufe der Zeit die ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen. Längerfristige familiäre Urlaubsplanungen sind kaum oder nur bedingt möglich, vor allem bei Flugreisen. Während der Partner ein Ferienziel buchen möchte, fragt der agoraphobische Patient nach den Stornobedingungen für den Fall, dass er sich vor der Abreise unwohl fühlen sollte. Auch bei kleineren Ausflügen im eigenen Land bzw. Bundesland muss dieser Umstand berücksichtigt werden.
Verschiedene Agoraphobiker können nur mit dem Partner zusammen in die Arbeit gehen und nur in seiner Begleitung an verschiedenen sozialen Aktivitäten teilnehmen. Oft müssen Partner und Kinder von agoraphobischen Frauen die Einkäufe erledigen.
Manchmal nimmt sich der Gatte sogar Urlaub, um an der Seite seiner furchtsamen Frau bleiben zu können. Ein Drittel der Agoraphobiker ist so behindert, dass die Erfüllung der beruflichen und familiären Verpflichtungen nicht mehr möglich ist.
Die Agoraphobie kann im Extremfall so ausgeprägt sein, dass der Partner seinen Beruf aufgibt, um ganz für den angstkranken Angehörigen da sein zu können, der weder allein in der Wohnung verbleiben noch allein das Haus verlassen kann.
Wenn die Angehörigen die Agoraphobie des Familienmitglieds nicht mehr länger unterstützen möchten und sich heftig dagegen wehren, sind ständige Streitereien wahrscheinlich.
Die übrige soziale Umwelt erfährt oft auch weiterhin nichts oder nur wenig von der agoraphobischen Beeinträchtigung.
Im Laufe der Zeit entwickelt sich ein immer stärkerer Rückzug vom früheren Bekanntenkreis, eine Einschränkung der Freizeitaktivitäten, ein zunehmender Leidensdruck, zeitweise auch eine Arbeitsunfähigkeit.
Nach jahrelangem Verbergen der Agoraphobie können plötzlich Situationen entstehen, die dazu führen, dass sich die Betroffenen in Behandlung begeben müssen:
- zunehmende Unfähigkeit, alle Tätigkeiten im Außendienst wahrzunehmen;
- notwendige berufliche Weiterbildung in einer fremden Stadt, in der man nicht allein in einem Hotelzimmer übernachten kann;
- beruflicher Aufstieg durch Versetzung an einen anderen Ort;
- plötzlich erforderliche Aktivitäten im Freizeitbereich (Einladungen, Reisen, Einkaufsfahrten), die ohne das Vorhandensein von Sicherheitsgarantien (Anwesenheit des Partners, Beruhigungsmittel) nicht möglich sind;
- massiver Druck durch den Partner, der gemeinsame Urlaubsreisen in ferne Länder unternehmen möchte oder zunehmend eigene Aktivitäten entfaltet und damit aus der bisher für sicher gehaltenen Ehe auszusteigen droht;
- plötzlicher Ausstieg des Partners aus der Rolle des Symptomverstärkers;
- Trennungsdrohung durch den Partner, wenn die Symptomatik bestehen bleibt.
Eine englische Untersuchung an 1000 agoraphobischen Frauen ergab, dass sich drei Viertel davon in ihrem Berufsleben durch die Phobie behindert fühlten. 48% hätten sich gerne beruflich verändert und verbessert, fürchteten jedoch, die Bewerbungs- und Vorstellungsprozedur nicht durchstehen zu können.
Der Anteil der Berufstätigen (nur 23%) war im Vergleich zur weiblichen Durchschnittsbevölkerung reduziert. 83% der Nichtberufstätigen wollten nach Überwindung der Agoraphobie berufstätig werden.
In großer Not und bei hoher Motivation kann eine Agoraphobie schlagartig überwunden werden, um bei Nachlassen des äußeren und inneren Drucks wieder in der ursprünglichen Form aufzutreten:
„Eine in Wien lebende Jüdin konnte sich von ihrer Wohnung nie weiter als ein paar Straßenlängen entfernen; als dann die Nazis an die Macht kamen, sah sie sich vor die Wahl gestellt, entweder zu fliehen oder in einem Konzentrationslager zu landen. Sie begab sich auf die Flucht und reiste zwei Jahre lang in der Welt umher, bis sie schließlich in den Vereinigten Staaten eintraf. Sobald sie nun in New York City wieder seßhaft geworden war, entwickelte sie die gleiche Reisephobie, die sie schon in Wien gehabt hatte.“
In den deutschen Konzentrationslagern verschwanden (agora-)phobische Symptome entweder völlig oder besserten sich so sehr, dass die Häftlinge arbeitsfähig waren, weil sie ansonsten auf der Stelle in die Vernichtungslager geschickt worden wären. Nach der Befreiung traten bei einem Teil der Lagerinsassen die alten Symptome wieder auf.
In Notsituationen des alltäglichen Lebens (z.B. bei einem Unfall mit Verletzten oder bei schwerer Erkrankung des Kindes) können agoraphobische Patienten ebenfalls plötzlich ihre Agoraphobie überwinden. Das Fluktuieren der Symptomatik kann bei Verwandten und Bekannten zur Auffassung führen, der Betroffene sei einfach nur unwillig, bequem und wolle sich vor schwierigen Situationen drücken. Demgegenüber ist festzuhalten, dass Höchstleistungen nicht dauernd erbracht werden können.
Die angeführten Beispiele weisen auf die Bedeutung der Motivation hin. Die Aussicht, bei Überwindung der Angst positive Situationen zu erleben (z.B. Urlaub, Arbeitsaufnahme), oder die Angst, bei übermäßiger Agoraphobie als wichtig eingeschätzte Befriedigungen des Lebens zu verlieren (z.B. Arbeit als Mittel des Selbsterhalts), macht die Agoraphobie in bestimmten Situationen leichter bewältigbar als in anderen Situationen, die keinen Motivations- und Energieschub auslösen.
Schwankungen der agoraphobischen Symptomatik lassen sich oft auch durch „gute“ und „schlechte“ Tage erklären, nicht selten durch depressive Stimmungsschwankungen, die den Antrieb zur Bewältigung der Agoraphobie vermindern, sodass diese nicht selten ausufert wie in früheren Zeiten.
Ohne Vorliegen einer Erschöpfungsdepression bringen längere Krankenstände zur Erholung und Entspannung meist keine Besserung, sondern häufig sogar eine Verschlechterung der Agoraphobie, weil die Symptomatik ohne den Zwang zur Einhaltung eines bestimmten Tagesablaufs erst richtig ausufern kann.
Die scheinbare Erholung im Krankenstand wird oft nur bewirkt durch die Reduktion der Erwartungsangst vor dem Auftreten der Symptome am Arbeitsplatz.
Das Fehlen einer fix vorgegebenen Tagesstruktur mit Aktivitäten außer Haus ist der Grund, warum eine Agoraphobie bei Hausfrauen, Studenten und Selbstständigen leichter ausufert als bei unselbstständig Beschäftigten. Dies erklärt auch, warum viele früher sehr selbstbewusste und beruflich erfolgreiche Frauen eine lebenseinengende Agoraphobie erst dann entwickeln, wenn sie wegen der Heirat und der Kindererziehung ihren Beruf aufgegeben haben.
Stationäre Aufenthalte können bei allgemeinen Überlastungssituationen, depressiven Erschöpfungszuständen und gezielten symptombezogenen Therapiemaßnahmen einen heilenden Effekt haben, sie können jedoch auch die Gefahr einer überlangen Aufenthaltsdauer in sich bergen.
Verschiedene Patienten möchten das Krankenhaus am liebsten erst dann verlassen, wenn ihre Erwartungsängste bezüglich des Auftretens von Panikattacken in agoraphobischen Situationen völlig verschwunden sind.
Wenn bei einer stationären Besserung aufgrund der bevorstehenden Entlassung eine plötzliche Verschlechterung der agoraphobischen Symptomatik einsetzt, muss auf das Auftreten von Erwartungsängsten geschlossen werden, oft auch auf Realängste bezüglich einer stationär zu wenig angesprochenen oder nur unzureichend bearbeiteten familiären, partnerschaftlichen oder beruflichen Problematik, angesichts der ein Krankenhausaufenthalt nur eine kurzfristige Entlastung oder eine Vermeidungsreaktion darstellt.
Differenzialdiagnose
Im Gegensatz zu einer Agoraphobie werden bei einer spezifischen Phobie nur bestimmte Objekte und Situationen gefürchtet, z.B. Fliegen, Lift fahren, Spinnen, Hunde.
Bei einer sozialen Phobie werden Situationen nicht wegen der körperlichen Bedrohlichkeit gefürchtet und gemieden, sondern wegen möglicher negativer Beurteilung durch andere Menschen, d.h. es werden soziale und Leistungssituationen vermieden.
Bei Agoraphobikern sind oft zwei Arten von Ängsten anzutreffen:
- Angst vor Panikattacken oder einer panikähnlichen Symptomatik. Die fehlende Garantie für die Sicherheit und Unversehrtheit der Person führt bei Panikpatienten oft zur Einschränkung des Aktionsradius und zur Abhängigkeit von bestimmten Sicherheitsgarantien (z.B. Vorhandensein von anderen Personen oder Medikamenten).
- Angst vor sozialer Auffälligkeit („Was werden die anderen Menschen von mir denken, wenn sie mich während einer Panikattacke sehen?“). Hinter der Angst vor dem Sichtbarwerden körperlicher Symptome stehen oft eine soziale Unsicherheit und eine soziale Ängstlichkeit. Sozialphobische Agoraphobiker fürchten den „sozialen Tod“, den Verlust des Sozialprestiges als Folge der sozialen Auffälligkeit, was durch bestimmte sichtbare, als an sich ungefährlich erkannte Symptome (Rotwerden, Zittern, Schwitzen, Ausbleiben oder Veränderungen der Stimme) verstärkt wird.
Bei verschiedenen Personen ist nur scheinbar eine Agoraphobie gegeben, tatsächlich liegt eine soziale Phobie vor. Dieser Umstand wird in der klinischen Praxis oft zu wenig beachtet, weshalb viele Konfrontationstherapien ohne gleichzeitige kognitive Therapie unbefriedigend verlaufen. Eine Unterscheidung zwischen Agoraphobie und sozialer Phobie kann anhand folgender Umstände relativ zuverlässig erfolgen:
- Die Angst vor Menschenansammlungen tritt nicht nur bei einer Agoraphobie, sondern öfter auch bei einer sozialen Phobie auf. Bei einer Agoraphobie ist jedoch die zentrale Befürchtung, die jeweiligen Situationen nicht jederzeit rechtzeitig verlassen zu können bzw. keine Hilfe von Fremden bekommen zu können, bei der sozialen Phobie dagegen sind eher bekannte Menschen der Angst auslösende Faktor, die als potenzielle Kritiker gefürchtet werden. In einem Lokal sitzen Panikpatienten lieber bei der Tür, Sozialphobiker eher versteckt in einer Ecke. Panikpatienten gehen lieber in kleinere, überschaubare Geschäfte, Sozialphobiker eher in Supermärkte.
- Bei einer Agoraphobie (vor allem bei gleichzeitiger Panikstörung) kreisen die Befürchtungen um das eigene körperliche und psychische Wohlbefinden (Angst verrückt zu werden, die Kontrolle zu verlieren, zu sterben, in Ohnmacht zu fallen) ohne Sorgen um die Bewertung des Verhaltens durch andere Menschen. Bei typischen Agoraphobikern ohne Sozialphobie ist die Angst unabhängig vom sozial relevanten Verhalten. Sie haben einfach Angst, ohnmächtig umzufallen und vielleicht nicht mehr aufzuwachen, auch wenn die umstehenden Leute gute Bekannte sind.
- Bei der sozialen Phobie beziehen sich die Befürchtungen auf die negative Bewertung des eigenen Handelns oder der eigenen Person durch andere Menschen. Bei einer scheinbar agoraphobischen Symptomatik wie der Angst umzufallen kann über die Frage nach den Konsequenzen des Umfallens rasch erkannt werden, ob anstelle der Todesangst eine Sozialphobie im Sinne der Angst aufzufallen gegeben ist.
- Eine Agoraphobie in der Folge einer Panikattacke setzt relativ plötzlich ein, während die Meidung von sozialen Situationen aufgrund einer sozialen Phobie sich über einen langen Zeitraum entwickelt hat.
- Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Agoraphobie und sozialer Phobie ist die Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Menschen als auslösende oder aufrechterhaltende Bedingung der Angst. Agoraphobiker können auch in menschenleeren Bussen oder Kinos Angst erleben (d.h. ohne das Gefühl der Beobachtung) und suchen daher die Sicherheit gebende Nähe anderer Menschen (wenn sie nicht überhaupt mit einem nahen Angehörigen oder gutem Bekannten unterwegs sind), während Sozialphobiker Angst nur in Anwesenheit anderer Menschen erleben. Agoraphobiker haben primär Angst, allein zu sein und nicht rechtzeitig Hilfe zu bekommen, Sozialphobiker fürchten vor allem, beobachtet und bewertet zu werden. Panikpatienten gehen z.B. aus Sicherheitsgründen lieber mit Bekannten einkaufen, Sozialphobiker aus Angst vor Blamage vor den Begleitpersonen lieber allein.
- Die Art der Symptome lässt sich zur Unterscheidung der beiden Gruppen ebenfalls gut heranziehen. Sozialphobiker fürchten eher für andere sichtbare körperliche Symptome wie Erröten, Schwitzen, Zittern, Weinen und Stimmveränderungen, Agoraphobiker fürchten dagegen bedrohlich erscheinende Symptome wie Atembeschwerden, Herzrasen, Schwindel, Ohnmacht, Schwäche in den Gliedern („weiche Knie“) oder Depersonalisation (sich selbst irgendwie fremd erleben mit einer daraus resultierenden Angst, „verrückt“ zu werden). Bei einer gleichzeitig gegebenen Sozialphobie lassen sich verschiedene Agoraphobiker nicht auf eine Konfrontationstherapie ein. Sie fürchten neben den Paniksymptomen auch die soziale Auffälligkeit.
Zahlreiche andere Personengruppen ziehen sich zurück, ohne dass ihr Verhalten als Agoraphobie bezeichnet werden kann:
- Bei Menschen mit medizinischen Krankheitsfaktoren hängen Vermeidungsreaktionen oft mit realistischen Befürchtungen zusammen (z.B. Schwindel bei hirnorganischen Störungen, Durchfall bei Morbus Crohn, Angst vor einem Sturz mit Beinbruch bei älteren und gebrechlichen Menschen).
- Personen mit erworbenen Behinderungen oder sichtbaren Krankheiten meiden oft den Kontakt mit der Umwelt, um nicht aufzufallen und ziehen sich zurück. Sie haben sekundär, d.h. als Folge der körperlichen Beeinträchtigung, eine sozialphobische und keine agoraphobische Symptomatik entwickelt.
- Personen mit Zwangsstörungen vermeiden Situationen wegen möglicher Verunreinigungen, um sich dadurch vermehrtes Waschen und Reinigen und die Ausübung der belastenden Rituale zur Wiederherstellung des früheren Zustandes zu ersparen.
- Bei einer Depression erfolgt der Rückzug nicht aus körperlichen oder sozialen Ängsten, sondern aus Antriebsmangel und Lustlosigkeit. Oft verstärkt eine sekundäre Depression eine ursprüngliche Agoraphobie oder Sozialphobie. Die Beseitigung der Depression ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Angstbewältigung.
- Patienten mit einer paranoiden Symptomatik ziehen sich zurück, um der gefürchteten Beobachtung und vermeintlichen Bedrohung durch andere zu entgehen.
Expositionstherapie - Angstkonfrontation
Die Reizkonfrontationstherapie wurde in den 1960er-Jahren in England entwickelt, wo sie „exposure“ genannt wird, weshalb man im deutschen Sprachraum auch von „Exposition“ oder „Expositionstherapie“ spricht.
Vor längerer Zeit hat sich anstelle der Bezeichnung „Reizkonfrontationstherapie“ der Begriff „Konfrontationstherapie“ durchgesetzt, weil damit nicht nur die Konfrontation mit dem Reizaspekt der Situation („äußere Reize“), sondern auch die Konfrontation mit den eigenen (Angst-)Reaktionen („innere Reize“) erfasst wird.
Über eine Konfrontationstherapie erfolgt vor allem auch eine Differenzierung, Neuordnung und Integration der gesamten kognitiv-emotionalen Strukturen und nicht nur eine Auseinandersetzung mit der gefürchteten Außenwelt.
Als Begründer der Konfrontationstherapie gilt Isaac Marks, ehemaliger Professor für Psychiatrie an der Universität von London und seit Jahrzehnten die bedeutsamste Persönlichkeit in der Erforschung und verhaltenstherapeutischen Behandlung von Angststörungen in Großbritannien.
Konfrontationstherapien beruhen auf dem Prinzip der Konfrontation mit den Angst machenden Situationen oder Objekten ohne Entspannung. Die Konfrontation im Sinne einer massierten Reizkonfrontation bezeichnet man als „Reizüberflutung“ (englisch „Flooding“).
Die Konfrontationstherapie beruht auf drei Prinzipien:
- Massierte Reizkonfrontation. Es erfolgt eine direkte, sofortige und intensive Konfrontation mit den am meisten Angst machenden Situationen in der realen Umwelt.
- Ununterbrochene und nicht ablenkende Konfrontation mit der Angstsituation bis zum Zeitpunkt eines deutlichen Absinkens der Angstreaktionen auf ein erträgliches Ausmaß. Die intensive Zuwendung zu den Angst machenden Reizen kann entweder durch inneres Verbalisieren und Kommentieren der momentanen Vorgänge oder durch lautes Sprechen über die aktuellen Vorgänge (z.B. in Begleitung des Therapeuten) aufrechterhalten werden.
- Reaktionsverhinderung. Die Betroffenen sollen die gefürchtete Situation im Zeitpunkt der größten Angst nicht verlassen, sondern darin ohne Fluchtreaktion ausharren, um das Erlebnis der Bewältigung zu erfahren.
1980 veröffentlichten die Marburger Forscher Bartling, Fiegenbaum und Krause das Standardwerk „Reizüberflutung. Theorie und Praxis“. Die Autoren bezogen sich zur theoretischen Fundierung auf die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer, die sie jedoch als unzulänglich hinstellten, weil dieses Konzept das Anhalten phobischen Verhaltens trotz einer Konfrontationstherapie nicht erklären könne.
Neben den lerntheoretischen Konzepten von Stimulus (Reiz) und Response (Reaktion) als Grundeinheiten des Verhaltens wurden bereits damals kognitive Konzepte betont, die die psychischen Verarbeitungsprozesse berücksichtigen, die während einer Konfrontationstherapie ablaufen: Durch positive Erfahrung werden negative Erwartungen widerlegt (kognitive Diskrepanz zwischen Befürchtungen und erlebter Realität) und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit erzeugt.
Die Wirkmechanismen der Konfrontationstherapie beruhen nach traditioneller Auffassung auf den Vorgängen der „Löschung“ und der „Habituation“:
„Durch wiederholte Konfrontation mit dem konditionierten Stimulus bei gleichzeitiger völliger Verhinderung der Vermeidungsreaktion soll die Angstreaktion gelöscht werden. Für eine effektive Löschung sollten möglichst alle Reize, die zu konditionierten Stimuli für die (potentielle) Angstreaktion geworden sind, dargeboten werden. Ein Generalisierungseffekt ist jedoch zu erwarten.“
Löschung bedeutet, dass die Angstreaktion auf einen phobischen Auslöser hin nicht durch Flucht oder Vermeidung beendet wird, sondern durch Gewöhnung (Habituation) an den phobischen Reiz in Form von regelmäßiger Konfrontation.
Habituation bedeutet eine Gewöhnung an bislang Angst machende Reize und Situationen, sodass die physiologische Erregung nachlässt. Anders formuliert ist Habituation „das Absinken der Reaktionswahrscheinlichkeit zentralnervöser und peripherer Strukturen bei wiederholter Reizdarbietung“.
Bei neuen, ungewohnten, unerwarteten, gefährlich und unerträglich erscheinenden Reizen und Situationen erfolgt eine 3-5 Minuten dauernde arousal reaction, d.h. eine massive körperliche und geistige Aktivierung im Sinne der Kampf-Flucht-Reaktion nach Cannon und der Alarmreaktion nach Selye.
Bei Angst- und Zwangspatienten hält jedoch die psychophysiologische Aktivierung dauerhaft an, weil durch das ständige Restrisikodenken und Vermeidungsverhalten keine Gewöhnung an die entsprechenden Auslösereize erfolgt.
Die verhaltenstherapeutischen Experten weisen auf die Ähnlichkeit der Reizkonfrontationstherapie mit paradoxen Therapieverfahren hin:
„Die Aufforderung, die Angst zuzulassen, beinhaltet nach unserer Erfahrung erhebliche Anteile einer paradoxen Instruktion und sollte vor und während des Intensivtrainings häufiger wiederholt werden.“
Die Effektivität eines derartigen Vorgehens hatte bereits in den 1930er-Jahren der Wiener Psychiater Viktor Frankl mit seiner Technik der „paradoxen Intention“ aufgezeigt. Die Reizüberflutungstherapie beginnt genau mit dem, was die systematische Desensibilisierung bzw. gestufte Reizkonfrontationstherapie gezielt zu verhindern sucht, nämlich mit der Provokation von Emotionen und körperlichen Angstreaktionen.
Durch rasche und massive Konfrontation mit den am meisten Angst machenden Situationen unter realistischen Bedingungen, d.h. in Alltagssituationen, werden die bisher gefürchteten körperlichen, emotionalen und kognitiven Reaktionen in Anwesenheit des Therapeuten provoziert und bewältigt.
Die Patienten werden ermutigt, die Angst machenden Situationen zum Zeitpunkt der größten vegetativen Erregung nicht zu verlassen, sondern in einer Art Beobachterposition aushalten zu lernen.
Nach dem Achtsamkeitskonzept werden psychophysiologische Zustände dagegen nicht zuerst provoziert und dann toleriert, sondern als Kommen-und-Gehen ohne Bewertung zugelassen.
Bereits vor rund drei Jahrzehnten warnten die erwähnten Experten vor dem Automatismus „Angst in verschiedenen Situationen, daher Konfrontationstherapie“ und betonten die Notwendigkeit einer umfassenden Verhaltensanalyse unter Berücksichtigung kognitiver Aspekte. Angst könne die Folge eines anderen Problems sein. Nur bei einer sich verselbstständigenden Angstsymptomatik sei eine Konfrontationstherapie indiziert.
Verhaltenstherapeuten gehen – im Gegensatz zu anderen Psychotherapeuten – bei Bedarf zusammen mit ihren Patienten aus dem Therapieraum in Angst machende Situationen des Lebensalltags, um ihnen diese in Form eines intensiven Erlebens besser bewältigen zu helfen als durch ein „Darüber-Reden“.
Heutzutage erfolgt eine massierte Konfrontationstherapie nur mehr bei einer sehr schweren Agoraphobie gemeinsam mit dem Therapeuten, der sich später immer mehr ausblendet, meistens erfolgt die Exposition von Beginn an alleine oder in Begleitung einer gut instruierten Vertrauensperson.
Bei vielen agoraphobischen Patienten ist eine Reizüberflutung in Begleitung des Therapeuten wenig sinnvoll, weil der anwesende Therapeut eine Sicherheitsgarantie darstellt („Wenn etwas passiert, werden Sie mir helfen“, „Auf Ihre Verantwortung hin mache ich alles“), aber auch das unerträgliche Gefühl des Alleinseins mildert („Mit Ihnen mache ich gerne alle Übungen, allein freut es mich nicht“).
Viele Agoraphobie-Patienten können die Übungen in Anwesenheit des Therapeuten sogar genießen, während sie erst beim Üben allein richtiggehend Angst bekommen.
Reizüberflutung bedeutet nach einem Bild von Marks in das tiefe Wasser der Angst zu springen. Desensibilisierung ist dagegen ein zentimeterweises Hineinwaten vom seichten Ende her.
Bei Therapiebeginn erfolgt sofort eine Konfrontation mit den am stärksten Angst machenden Situationen im Sinne einer „Überflutung“ (Flooding), um rasch einen Durchbruch zu erreichen und tage- bzw. wochenlanges Üben überflüssig zu machen.
Dabei wird anfangs mindestens 1-3 Tage lang zusammen mit dem Therapeuten intensiv geübt, und zwar den ganzen Tag lang (mindestens jedenfalls 4-6 Stunden), oder es finden 1-5 Übungstage innerhalb von 2 Wochen statt, während eine gestufte Reizkonfrontation im Sinne eines Angst-Meidungs-Trainings 6 Wochen bis 6 Monate Zeit erfordert, bis sich ein ausreichender Therapieerfolg einstellt.
Bei einem zeitlich besonders massierten Vorgehen werden in ca. 5-10 aufeinander folgenden Tagen bis zu 8-10 Stunden täglich die symptomauslösenden Situationen aufgesucht.
Trainiert wird die Konfrontation mit Angst machenden Situationen, wie sie für den Patienten typisch sind, aber auch wie sie in der Alltagswelt des Durchschnittsbürgers auftreten können. Nach den Intensivtagen zusammen mit dem Therapeuten soll der Patient die Übungen täglich allein fortsetzen.
Durch die massierte Reizkonfrontation soll möglichst rasch und intensiv eine Konfrontation mit den gefürchteten körperlichen, kognitiven und emotionalen Reaktionen erreicht werden.
Ohne Bereitschaft zur intensivsten Reaktionsmöglichkeit (Panikattacke), besteht eine potenzielle Rückfallsgefahr und eine große Erwartungsangst vor dem Schlimmsten, dem man sich nicht gewachsen sieht. Erwartungsängste sollen dadurch abgebaut und zukünftig vermindert werden.
Bei der Reizüberflutungstherapie besteht die Bereitschaft, Angst- und Panik-Reaktionen in der realen phobischen Umwelt auszulösen und zugleich adäquate Bewältigungsstrategien einzuüben.
Dieses Ziel wird durch ein gestuftes Vorgehen oder durch eine parallel laufende Medikation nicht so leicht erreicht, weil die typische „Angst vor der Angst“ nicht überwunden wird.
Die Erfahrung, dass auch die stärkste Angst aushaltbar ist und nach einiger Zeit (5-20 Minuten) zurückgeht, bewirkt nicht nur eine Habituation, sondern eine „kognitive Umstrukturierung“, die durch eine rein kognitive Therapie (Analyse und Änderung der Denkmuster) nicht so effektiv erreicht wird (Motto: „Ich erlebe, dass ich Angst aushalten kann, daher glaube ich auch zukünftig, dass ich Angst aushalten kann“). Eine Konfrontationstherapie bewirkt über die Habituation hinaus eine Verbesserung der Selbstwirksamkeit.
Faktum ist: Das beste Lernen erfolgt bei einem mittleren Angstausmaß. Daher gehen immer mehr Verhaltenstherapeuten davon aus, dass es bei der Konfrontationstherapie nicht primär um die Provokation und Bewältigung von Panikattacken geht, sondern vielmehr um die Ermöglichung von Erfolgserlebnissen und Bewegungsfreiheit.
Durch eine Expositionstherapie ist oft schon nach einer Woche eine jahrelange Agoraphobie bewältigbar. Dies bringt zwar die schnellsten und sichersten Erfolge, scheint jedoch nur Mutigen und gut Belastbaren vorbehalten zu sein.
Eine massierte Konfrontationstherapie ist besonders bei Phobien mit Panikattacken und Vermeidungsverhalten (Kleintierphobie, Agoraphobie, soziale Phobie) angezeigt, weil die Betroffenen dazu neigen, Panikattacken durch Vermeidungsstrategien zu bewältigen, die in weiterer Folge die Angst vor der Angst nur verstärken und langfristig die Gefahr einer sekundären Depression oder eines Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauchs in sich bergen.
Bei unüberwindlichem chronischen Vermeidungsverhalten ist eine gestufte Reizkonfrontation sinnvoll, wenngleich therapieverlängernd.
Nützlich sind dabei auch Selbsthilfebücher wie das altbekannte Agoraphobie-Selbsthilfeprogramm von Mathews, Gelder und Johnston aus London, das von Hand und Fisser-Wilke in Hamburg übersetzt und seit den 1980er-Jahren erfolgreich eingesetzt wird.
Hausübungen in Form einer eigenständigen, gestuften Angstkonfrontation entsprechen dem Prinzip der Verhaltenstherapie, dass sich Veränderungen nicht so sehr in den therapeutischen Sitzungen, sondern vielmehr in den Zeiträumen zwischen den Therapiestunden ereignen.
Meine Erfahrung ist: Erwartungsängste bezüglich Panikattacken sind bei bereitwilligen Patienten am schnellsten mittels Provokation einer solchen durch mentale Vergegenwärtigung im Therapieraum zu behandeln, weil als Folge der Erfahrung, dass keine Katastrophe eintritt, die falschen Denkansätze der Patienten am überzeugendsten korrigiert werden können.
Das Grundprinzip lautet: Realitätstestung statt Fantasieren. Ziel ist eine realistischere Einschätzung von Situationen und körperlichen Reaktionen.
Durch Konfrontationen mit gefürchteten Situationen, deren konkrete Angstauslöser vorher oft gar nicht angegeben werden können, wird deutlich, ob eher eine Angst vor den eigenen körperlichen Reaktionen besteht (wie dies bei einer Panikstörung der Fall ist) oder eher eine Angst vor der Reaktion der Umwelt (wie dies bei einer sozialen Phobie zutrifft).
Verschiedene Agoraphobiker mit Panikstörung haben keine Angst zu sterben, sondern eine Angst, unangenehm aufzufallen oder für verrückt gehalten zu werden.
Isaac Marks beschreibt in seinem populärwissenschaftlich verfassten Buch „Ängste. Verstehen und bewältigen“ einem großen Leserkreis durch Beispiele, warum das Prinzip der Konfrontation ohne Flucht so wichtig ist:
„Um Phobien im Keim zu ersticken, lautet die goldene Regel: Vermeiden Sie Flucht! Fördern Sie die Konfrontation mit der Angst. Nach einem plötzlichen Unfall vergeht oft eine gewisse Zeit, bevor eine Phobie entsteht. Wenn der Betreffende in diesem Zeitraum der ursprünglichen Situation noch einmal unmittelbar ausgesetzt wird, bewahrt ihn das davor, sich vor ihr zu fürchten. Es ist eine alte Erkenntnis, daß Menschen unmittelbar nach dem ursprünglichen Trauma die traumatische Situation noch einmal durchleben sollten. Piloten wird geraten, nach einem Flugunfall absichtlich sobald als möglich wieder zu fliegen, und Autofahrern wird empfohlen, sich nach einem Zusammenstoß sobald wie möglich wieder ans Steuer zu setzen. Wenn man von einem Pferd stürzt, ist es das Beste, gleich wieder aufzusteigen.“
Der Erfolg von Konfrontationstherapien hängt sehr davon ab, dass die Betroffenen durch ein plausibles Erklärungsmodell von der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens überzeugt werden können. Dies setzt nicht nur eine optimale Vermittlung von Sachinformationen und technischen Anleitungen voraus, sondern auch eine gute Therapeut-Patient-Beziehung, durch die ein Angstpatient erst Vertrauen und Zuversicht entwickeln kann.
Die meisten phobischen Patienten wissen im Prinzip, auf welche Weise sie ihre Ängste überwinden könnten, nämlich durch etwas mehr Mut und Konfrontation mit den Angst machenden Situationen, doch gerade dazu sind sie nicht in der Lage.
Angst vor bestimmten Situationen zu haben, bedeutet, sich selbst nicht vertrauen zu können, aber auch sonst niemandem. Konfrontationstherapien sind daher Übungen des Vertrauens.
Es ist eine paradoxe Situation: Trotz ihrer häufigen Abhängigkeit von Verwandten und Bekannten, ohne die sie das Haus nicht mehr verlassen können, haben viele Agoraphobiker das irreale Ziel, sich immer auf sich selbst zu verlassen, während andere Menschen eher darauf vertrauen, dass ihnen im Bedarfsfall schon jemand helfen wird.
Zahlreiche Angstpatienten benötigen gerade zu Beginn der Therapie eine emotionale Unterstützung, Motivierung und Handlungsanleitung durch den Therapeuten. Die Entscheidung zu einer Konfrontationstherapie zusammen mit dem Therapeuten stellt einen Ausdruck des Vertrauens zum Therapeuten dar.
Entsprechende Übungen innerhalb und außerhalb des Therapieraumes führen im Falle einer gemeinsamen Therapie zu einer Intensivierung der Therapeut-Patient-Beziehung, sodass es später möglich wird, verschiedene persönliche Themen in die Therapie einzubringen.
Die therapeutische Beziehung ist in der Verhaltenstherapie ebenso wichtig wie bei anderen Psychotherapiemethoden. Die „Verhaltens“-Therapie wird durch die Übungen auch zu einer „Erlebens“-Therapie, wie der Angst- und Zwangsexperte Reinecker formuliert hat.
Die meisten Patienten machen durch eine Konfrontationstherapie die bisher für unmöglich gehaltene Erfahrung, dass sie auch die größte körperliche Erregung ertragen können. Wiederholte Erlebnisse dieser Art bewirken eine kognitive Umstrukturierung: Neue Erfahrungen führen zu neuen Einstellungen.
In vielen Therapien sowie auch bei rein kognitiv orientierter Verhaltenstherapie läuft es umgekehrt: Neue Sichtweisen sollen zu neuen Erfahrungen führen. Dies ist zwar oft der elegantere Weg, scheitert bei Angststörungen jedoch häufig an den unkontrollierbar erscheinenden körperlichen Symptomen und dem seit Jahren eingeschliffenen Vermeidungsverhalten.
Aufgrund ihrer relativ stabilen Persönlichkeitsstruktur gelingt es reinen Agoraphobikern oft recht leicht, nach einer Konfrontationstherapie weitere anstehende Probleme selbst zu lösen (z.B. partnerschaftliche, familiäre oder berufliche Probleme).
Menschen mit generalisierter Angststörung, schwerer Zwangsstörung und ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung benötigen dagegen aufgrund ihrer frühkindlichen Beeinträchtigungen bzw. schweren sozialen Defizite meistens eine längere Therapie. Psychoanalytiker sprechen hier von ich-stärkenden Maßnahmen und „Nachreifung“.
Die Alternative „kurz dauernde und oberflächliche Verhaltenstherapie oder „lang dauernde und tief schürfende Psychoanalyse“ ist heutzutage als überholt anzusehen.
Agoraphobiker mit Panikattacken fürchten letztlich nicht verschiedene äußere Gegebenheiten, sondern ihre eigenen unkontrollierbaren körperlichen Reaktionen in diesen Situationen. Eine Konfrontationstherapie soll Angstpatienten helfen, ihre Symptome besser auszuhalten.
Den Betroffenen kann es anfangs manchmal so vorkommen, als sollten sie in der Therapie dasselbe nochmals versuchen, das sie selbst schon oft erfolglos probiert haben, nämlich Angst und Panik mutiger zu ertragen.
Ein typisches Beispiel dafür ist die Frage: „Ich weiß, ich habe die Panikattacken bisher immer ausgehalten und überlebt, aber geht es nicht doch irgendwie ohne diese Attacken?“
Bei der Konfrontationstherapie geht es nicht darum, schnell etwas „wegzumachen“, sondern das Erlebte vorerst einmal besser annehmen und aushalten zu lernen, um über diese Erfahrungen einen besseren Zugang zu sich selbst zu erhalten. Dies entspricht gestalttherapeutischen Konzepten („awareness“, „experiencing“) und der Achtsamkeitstherapie.
Oft reicht schon eine einmalige (zweistündige) Realitätstestung aus, um das weitere Vermeidungsverhalten zu beenden und den Betroffenen vor Augen zu führen, welche anderen Probleme vielleicht zum Vorschein kommen (berufliche oder partnerschaftliche Probleme, Konflikte zwischen Mutterschaft und Berufswunsch bei Frauen bzw. zwischen Autonomiewünschen der Ehefrau und Dominanzstreben des Gatten usw.).
Wo dies der Fall ist, werden bereits durch eine kurze Konfrontationstherapie die „dahinter liegenden“ Probleme auch für den Patienten deutlich, ohne dass der Therapeut den Betroffenen des Widerstands gegen diese Erkenntnis beschuldigen muss.
Eine Konfrontationstherapie verhindert Depression und Dauerstress und kann nach Iver Hand bei Phobikern als antidepressive Therapie angesehen werden.
Agoraphobiker entwickeln oft als Folge der nicht bewältigbar erscheinenden, lebenseinengenden Ängste eine ausgeprägte Depression mit reduziertem Selbstwertgefühl.
Beeindruckende Anfangserfolge durchbrechen die depressiv gefärbten Versagensängste, stärken das Selbstvertrauen und die Hoffnung auf einen erfolgreichen Therapieabschluss.
Viele Phobiker haben so starke Erwartungen des eigenen Versagens in phobischen Situationen, dass sie die ersten Erfolgserlebnisse bald entwerten durch die neuerliche Vorstellung möglicher Gefahren. Dies erfordert weitere Übungen, um die Erwartung von Erfolgserlebnissen aufzubauen.
In England wurden im Laufe der Zeit durch verschiedene Studien einige Konzepte der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung revidiert. Demnach schadet das Verlassen der Situation bei Angst dem Therapieerfolg ebenso wenig wie die Anwesenheit des Therapeuten nützt.
Stanley Rachman, einer der Mitbegründer der Verhaltenstherapie, stellte ein zentrales Prinzip der traditionellen verhaltenstherapeutischen Angstbewältigung in Frage. Die Reaktionsverhinderung, d.h. das Prinzip, Angst machende Situationen zum Zeitpunkt größter Angst nicht zu verlassen, ist nach 1986 publizierten Forschungsergebnissen für den Therapieerfolg nicht unbedingt notwendig.
Die Rachman-Gruppe stellte gleich hohe Therapieerfolge fest, wenn den Patienten erlaubt wurde, die phobischen Situationen zu verlassen, sobald sie ein hohes Angstniveau erreicht hatten. Ähnliche Erkenntnisse wurden in den Niederlanden gewonnen.
Therapeutisch hilfreich ist das Gefühl von Situationskontrolle, auch wenn diese in der Flucht besteht.
Die Therapieerfolge nach dem Hamburger Konzept von Iver Hand, das Flucht grundsätzlich „erlaubt“, scheinen diese Befunde indirekt zu bestätigen.
Nach verschiedenen Autoren ist als gemeinsamer Nenner aller erfolgreichen Angstbehandlungen die Konfrontation mit den Angst machenden äußeren und inneren Reizen anzusehen, die zu einer kognitiven Neubewertung körperlicher Reaktionen und situativer Gegebenheiten führt.
Die Forderung, in der Angst machenden Situation unbedingt auszuharren und erst nach Abklingen der Angst den jeweiligen Aufenthaltsort zu verlassen, weist auf die lerntheoretischen Wurzeln der Konfrontationstherapie hin: Durch das Vermeidungsverhalten erfolge keine ausreichende „Löschung“ des Angstverhaltens, weil dieses durch die erfolgreiche Aktion der Flucht immer wieder verstärkt werde. Dies trifft zwar oft zu, eine Verallgemeinerung ist daraus jedoch nicht ableitbar. Die Möglichkeit zur Flucht kann ein Gefühl der Souveränität vermitteln und das Aushalten der Angst erleichtern.
Das Team um Isaac Marks in London bestätigte im Rahmen einer großen Studie an 99 phobischen Patienten die Ergebnisse anderer Untersuchungen, dass sich die meisten Phobiker wesentlich verbessern durch systematische Selbstkonfrontation und wenig profitieren von zusätzlicher therapeutengeleiteter Exposition.
Die in der klinischen Praxis oft anzutreffende Konfrontationstherapie in Begleitung eines Therapeuten scheint demnach unter dem Gesichtspunkt von Aufwand und Ertrag nicht erforderlich zu sein.
Amerikanische Studien zur Behandlung von Panikattacken weisen ebenfalls darauf hin, dass ein reduzierter Therapeutenkontakt oft schon einen ausreichenden Therapieerfolg garantiert.
Die Erkenntnisse der englischen und amerikanischen Studien haben zur Folge, dass der Stundenaufwand für Therapeuten bei Angstbehandlungen deutlich reduziert werden kann, weil das gemeinsame Üben in Alltagssituationen entfällt.
Zumindest in günstigen Fällen können körperbezogene Übungen und Erfahrungen in Gegenwart des Therapeuten auf den Therapieraum begrenzt werden, ähnlich wie dies z.B. in der Gestalttherapie erfolgt.
Fazit: Bei Konfrontationstherapien geht es nicht primär darum, die Patienten mit den gefürchteten Situationen oder Orten zu konfrontieren, sondern mit den dabei auftretenden, als gefährlich und unkontrollierbar erlebten Körpersymptomen.
Wenn dies im Therapieraum durch bestimmte Provokationsübungen gelingt, wird das selbstständige Aufsuchen der gefürchteten Situationen erleichtert. Sollte dies nicht möglich sein, werden jene Situationen, in denen die gefürchteten körperlichen Zustände auftreten könnten, sukzessive aufgesucht.
Bei einer Konfrontationstherapie geht es weniger um Bewältigungserfahrungen im Sinne von „Sie sehen, was Sie alles aushalten können“, als vielmehr darum, den Patienten im Rahmen einer verbesserten Selbstwahrnehmung zu zeigen, wie sie selbst den gefürchteten Angstkreislauf aufschaukeln.
Im Sinne eines zeitökonomischen Vorgehens sind keine stunden- oder tagelangen gemeinsamen Übungen erforderlich, um dem Patienten in jeder nur denkbaren Situation das Gefühl der Kontrolle zu vermitteln, sondern lediglich eine gezielte Auswahl von möglicherweise Panik provozierenden Situationen.
Die Verfechter einer massierten Konfrontationstherapie sind überzeugt: Ohne Bereitschaft zum Erleben einer Panikattacke ist eine massierte Konfrontationstherapie bei Agoraphobie mit Panikstörung wenig sinnvoll, weil die Betroffenen dann alle unkontrollierbar erscheinenden Situationen vermeiden werden.
Die massierte Reizkonfrontation mit anschließender Reaktionsverhinderung (Bereitschaft der Patienten, die Angst machende Situation nicht zu verlassen, und zwar nicht durch therapeutischen Druck, sondern durch eigene Entscheidung) sei aus zeit- und geldökonomischen Gründen sowie aufgrund der Forschungsergebnisse das Mittel der Wahl bei Agoraphobie mit Panikstörung.
Anleitung zur Konfrontationstherapie für Psychotherapeuten
Potenzielle Verhaltenstherapiepatienten werden in diesem Abschnitt darüber informiert, welche Behandlungsprinzipien ein Verhaltenstherapeut beachtet bzw. meiner Meinung nach beachten sollte.
Folgende Anleitung ermöglicht Psychotherapeuten aller Methoden die Durchführung einer Konfrontationstherapie bei Agoraphobie mit und ohne Panikstörung:
1. Führen Sie eine detaillierte Motivations-, Bedingungs-, Verhaltens- und Funktionsanalyse des Angstverhaltens durch, bevor Sie aktionsorientiert vorgehen. Lassen Sie sich auf keinen blinden Aktionismus ein! Eine Konfrontationstherapie erfordert stets die Einbettung in eine therapeutische Gesamtstrategie. Welche familiären, beruflichen und sonstigen Belastungen und welche Denkmuster haben die Entwicklung einer Agoraphobie mit oder ohne Panikstörung begünstigt? Wie oft sind wirklich Panikattacken aufgetreten und wie oft „nur“ verschiedene unangenehme Symptome wie Schwindel, Übelkeit, Harn- oder Stuhldrang? Wie und durch welche Denkmuster kommt es zu den vom Patienten am meisten gefürchteten Symptomen? Welche Erklärungsmodelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung hat der Patient entwickelt? Unter welchen Bedingungen treten die Symptome besonders häufig auf, wo dagegen überhaupt nicht? Welche Situationen meidet der Patient auf jeden Fall, welche kann er unter bestimmten Umständen aufsuchen? Mit welchen Sicherheitssignalen (Handy, Medikamente, Begleiter) kann der Patient sofort verschiedene Situationen problemlos aufsuchen? Welche subtilen Vermeidungsformen setzt der Patient ein? Wie sehr sind die Ängste Ausdruck einer Hemmung und Vermeidungshaltung und wie sehr Ausdruck mangelnder sozialer Kompetenz? Wie entschlossen ist der Patient, eine Panikattacke um jeden Preis zu vermeiden? Warum will der Patient gerade jetzt sein Verhalten ändern? Welche attraktiven Ziele hat er nach der Angstbewältigung vor Augen? Welche sonstigen Ressourcen können bei der Angstbewältigung genutzt werden?
2. Klären Sie alle Kontraindikationen ab (Psychose in der Anamnese, gegenwärtig primäre Depression, Herzerkrankung, Epilepsie, Entzugssymptomatik, aktuell notwendige hohe medikamentöse Dosierung). Vermeiden Sie auf diese Weise gefährliche Situationen (z.B. Provokation eines Herzanfalls, epileptischen oder psychogenen Anfalls, Durchbruch psychotischer Ängste, Risiken bei Borderline-Störung, depressiver Zusammenbruch, verstärkte Angstabwehr durch Zwangssymptome, Misserfolgserlebnis bzw. noch mehr Angst bei geringer Übungsmotivation). Halten Sie den Patienten auch für fähig, nach einer intensiven Konfrontationstherapie einen längeren Heimweg gefahrlos allein mit dem Auto antreten zu können?
3. Achten Sie genau auf das Ausmaß der Eigen- bzw. Fremdmotivation für eine Konfrontationstherapie. Will der Betroffene seine Störung wegen sich oder primär wegen des ständigen Drängens anderer (z.B. Kritik vonseiten des Partners) loswerden? Im Falle eines ambivalenten Verhaltens des Patienten sollten Sie anfangs noch mehr an der Motivations- und Zielklärung arbeiten und nicht vorschnell aus Ihrer Verantwortung heraus oder auf Druck eines Angehörigen mit einer Konfrontationstherapie beginnen, ohne dass der Patient echt Ja dazu gesagt hat. Zur Klärung des Sachverhalts sollten Sie in den ersten Sitzungen zentrale Bezugspersonen einladen, um deren Einstellungen und Erwartungen kennen zu lernen. Eine gute Vorbereitung und eine Stärkung der Eigenmotivation vermindern spätere Fehler und Misserfolge. Bedenken Sie, dass eine Konfrontationstherapie nicht an sich therapeutische Wirkung zeigt, sondern nur deshalb, weil der Patient sich seinen Ängsten stellen will.
4. Erfassen Sie möglichst genau den bisherigen sekundären Krankheitsgewinn, den der Patient aus seiner Störung bezogen hat, denn in diesem Fall stellen die Ängste einen vorläufigen Problemlösungsversuch angesichts einer Situation dar, für die er noch keine anderen Bewältigungsstrategien entwickelt hat. Hält die Agoraphobie die Partnerschaft zusammen, verhindert sie die Wiederaufnahme einer Arbeit oder stellt sie die Begründung dafür dar, dass der Untersuchte nicht allein sein möchte und nichts allein machen muss? Was verliert der Patient im Falle der Angstfreiheit?
5. Verschaffen Sie sich einen Überblick darüber, welche anderen Probleme und Störungen neben der Agoraphobie mit oder ohne Panikattacken noch gegeben sind. Sind die Angstsymptome die primäre Störung oder die sekundäre Folge anderer Beschwerden (Depression, Alkoholmissbrauch, beruflicher oder familiärer Stress)? Besteht letztlich gar eine Sozialphobie, die vom Patienten nicht wirklich erkannt und als „Platzangst“ missverstanden wird?
6. Achten Sie anfangs nur darauf, wie Sie die aktuellen, problemerhaltenden Bedingungen der Agoraphobie am besten unterbrechen können. Benutzen Sie dabei Ihr Wissen, wie die Angststörung entstanden ist und durch welche Bedingungen sie gegenwärtig aufrechterhalten wird. Sie können dann vielleicht zum Schluss kommen, dass derzeit eine Konfrontationstherapie nicht die beste Behandlungsstrategie ist, sondern einige berufsbezogene, partnerorientierte bzw. partnergestützte Gespräche sinnvoller wären.
7. Berücksichtigen Sie die intraindividuellen und interaktionellen Funktionen der Angstsymptome. Ohne die Berücksichtigung der verschiedenen Funktionalitäten wird eine Konfrontationstherapie auf Dauer scheitern. Die Ängste waren bisher ein immerhin vorläufiger, wenngleich wenig konstruktiver Problemlösungsversuch angesichts oft vieler Schwierigkeiten des Lebens. Weisen Sie den Patienten daher vor und bei Bedarf auch während der Konfrontationstherapie immer wieder auf die erarbeiteten Zusammenhänge zwischen seinen Ängsten und seiner psychosozialen Befindlichkeit hin. Wenn Sie eine Konfrontationstherapie im Rahmen einer Individualtherapie durchführen, sollten Sie auch die möglichen Auswirkungen auf die Partner- und Familiensituation beachten und thematisieren.
8. Sprechen Sie (wenn möglich) mit dem Partner über die Konsequenzen einer schnellen Symptomreduktion für die Partnerschaft. Welche Auswirkungen hätte die plötzliche Angstfreiheit auf die Partnerschaft? Der Partner ist auf eine rasche Änderung oft nicht vorbereitet, sodass eventuell Partnerschaftsprobleme resultieren könnten, die durch rechtzeitige Vorbeugung zumindest gemildert werden könnten. Oft kann der „gesunde“ Partner mit der plötzlichen Symptomfreiheit des ehemaligen Angstpatienten nicht umgehen. Erklären Sie dem Patienten vor Übungsbeginn das Konzept von Angst und ihrer Reduktion. Die Entwicklung eines adäquaten Gesundheitsmodells im Sinne des Wissens darum, wie man gesund wird, beschleunigt und stabilisiert Erfolge, die oft falschen Erklärungskonzepte der Patienten für ihre psychovegetativen Symptome verstärken die Ängste (Herzinfarkt, „Nervenzusammenbruch“, Verrücktwerden). Wenn das agoraphobische Vermeidungsverhalten voll und ganz mit der Angst vor Panikattacken begründet wird, empfehlen Sie dem Patienten nützliche Selbsthilfebücher wie etwa „Wenn plötzlich die Angst kommt. Panikattacken verstehen und überwinden“ von Baker, „Angstfrei leben. Das erfolgreiche Selbsthilfeprogramm gegen Stress und Panik.“ von Bassett oder „Die zehn Gesichter der Angst. Ein Selbsthilfe-Programm in 7 Schritten“ von Morschitzky und Sator.
9. Achten Sie darauf, dass Psychopharmaka nur allmählich abgesetzt (ausgeschlichen) werden. Der plötzliche Verzicht auf Tranquilizer und Antidepressiva kann zu Panikattacken führen. Benzodiazepine sollten wenigstens 2 Wochen vor Beginn der Konfrontationstherapie abgesetzt werden, weil sonst der Erfolge den Medikamenten zugeschrieben und die eigene Leistung geschmälert wird (diese Behauptung ist jedoch umstritten und empirisch nicht ausreichend abgesichert, sodass auch eine Kombinationstherapie möglich ist). Antidepressiva können bei entsprechender Indikation weiter eingenommen werden. Nach verschiedenen Studien bringt die Kombination von Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie (Angst dämpfende Antidepressiva wie die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) bei schweren Angststörungen die raschesten Erfolge.
10. Beginnen Sie die Konfrontationstherapie zumindest in bestimmten Fällen mit einem „mentalen Training“, wo der Patient wie Spitzensportler in der Vorstellung alles bewältigen soll, was in der Wirklichkeit auf ihn wartet. Dabei können Sie unter Umständen auf wichtige Probleme aufmerksam werden, z.B. dass sich der Patient nicht einmal in der Verstellung in eine Angstsituation begeben möchte oder dass er falsche Bewältigungsstrategien wie permanente Ablenkungstechniken einsetzt, ohne die aufkommende Angst wirklich zuzulassen, obwohl Sie ihn auf die Bedeutung eines derartigen Vorgehens mehrfach hingewiesen haben.
11. Verwenden Sie für die Beschreibung und die Protokollierung des Angstausmaßes eine Angst-Skala (von 0-10), um ein einfaches Veränderungsmaß zu haben, das ohne lange Erklärungen eine rasche Therapeut-Patient-Kommunikation über die aktuelle Befindlichkeit ermöglicht.
12. Begleiten Sie den Patienten anfangs nur bei echtem Bedarf in angstbesetzte Situationen und unterstützen Sie ihn bei der Konfrontation mit den wichtigsten Angst auslösenden Situationen, und zwar entweder gestuft (üben Sie von leichten bis schweren Situationen) oder massiert (beginnen Sie mit den am meisten Angst machenden Situationen). Der Patient soll die für ihn passende Vorgangsweise auswählen. Blenden Sie sich möglichst bald aus dem Übungsprogramm aus, damit der Patient – auf sich selbst gestellt – alle Erfolge sich selbst zuschreiben lernt.
13. Wenn der Patient die Konfrontationstherapie von Anfang an ohne Ihre Anwesenheit durchführt, was in den meisten Fällen die sinnvollste Vorgangsweise ist, empfehlen Sie ihm ein gutes Selbsthilfebuch wie etwa das Buch „Platzangst“ von Mathews, Gelder und Johnston, das Hand und Fisser-Wilke für den deutschen Sprachraum adaptiert haben, oder das Angst-Selbsthilfe-Buch „Die zehn Gesichter der Angst. Ein Selbsthilfe-Programm in 7 Schritten“ von Morschitzky und Sator.
14. Wenn Sie den Patienten anfangs begleiten, sind folgende Vorgangsweisen zu beachten. Bauen Sie durch Ihre wohlwollende Unterstützung die Motivation des Patienten ständig immer weiter auf. Sie verhindern dadurch eine manchmal auftretende Resignationsneigung. Verstärken Sie das Verbleiben in der angstbesetzten Situation, bis die Angst deutlich abgenommen hat. Ein Verlassen der Angstsituation zum Zeitpunkt der größten psychovegetativen Erregung kann dazu führen, dass der Misserfolg am Ende der Übung emotional stärker erinnert wird als der anfängliche Erfolg, was zur Folge haben kann, dass entsprechende Angst machende Situationen zukünftig immer weniger aufgesucht werden. Üben Sie keinen Druck aus, dass der Patient die Situation nicht verlässt. Wenn ein Meidungsverhalten auftritt, schlagen Sie dem Patienten etwas später, jedoch noch im Rahmen desselben Übungstages, das Wiederaufsuchen der gemiedenen Situation vor.
15. Der Patient darf die Situation jederzeit verlassen – in Abweichung vom „klassischen“ Vorgehen und in Übereinstimmung mit Experten wie Rachman, Hand, Hoffmann und Hofmann. Dies muss keineswegs einen Rückschlag für die Therapie bedeuten, wie früher immer behauptet wurde. Die Entscheidung zum (Wieder-) Aufsuchen oder Verlassen einer Situation verbleibt immer beim Patienten. Schränken Sie den Patienten keinesfalls durch einen entmündigenden Therapievertrag ein. Der Patient ist für sein Leben und Verhalten selbst verantwortlich. Das oberste Ziel ist die Selbstbestimmung und Freiheit des Patienten, der auch in der Therapie zu nichts gezwungen wird, sondern sich selbst für jenen Weg entscheidet, der ihm der beste zu sein scheint. Im Falle Ihrer Anwesenheit diskutieren Sie mit dem Patienten jedoch vor dem gewünschten Abbruch einer Übung die möglichen Folgen seines Verhaltens, um ihn dadurch vielleicht zum Durchhalten ermutigen zu können.
16. Der Patient soll in der Angstsituation seine Wahrnehmungen der Innen- und Außenwelt verbalisieren, um seine Gedanken, Gefühle und körperlichen Zustände bewusst und ohne jegliche Vermeidung zu registrieren. Er sagt innerlich bzw. laut vor dem Therapeuten: „Ich sehe … spüre … höre … denke jetzt …“ Er spürt und benennt vor allem auch die Angstreaktionen seines Körpers: „Mein Herz schlägt jetzt schneller, mir wird etwas übel, mein Mund ist ganz trocken, ich bin leicht schwindlig, meine Beine sind wackelig.“ Er akzeptiert alle körperlichen Empfindungen ohne Ablenkungs- oder Unterdrückungsversuche und wendet sich seinen Zielen zu.
17. Der Patient soll sich dann, wenn er sich vor seinen Angstsymptomen und bestimmten äußeren Situationen nicht mehr so stark fürchtet wie früher, bewusst auf die Umwelt konzentrieren und das tun, was er gerne tun möchte. Das primäre Therapieziel des Patienten soll nicht nur die Angstbewältigung sein, sondern vielmehr auch die intensivere Teilnahme am Leben und an der Welt um ihn herum. Es soll wieder Spaß machen, sich überallhin bewegen zu können. Deshalb ist es wichtig, Ziele zu entwickeln, deretwegen es sich lohnt, die Wohnung zu verlassen und nicht einfach nur wegen der Angstbewältigung fremde Umgebungen aufzusuchen.
18. Die folgenden zusätzlichen Empfehlungen für Sie bzw. den Patienten haben sich in der Praxis vielfach bewährt. Der Patient soll bereits gemeisterte leichtere Situationen später wiederholen, um dadurch sein Erfolgserleben zu verstärken. Dies gilt insbesondere auch angesichts von mit großem Energieaufwand bewältigten schwierigeren Übungen, die erste Selbstzweifel des Patienten über den Gesamterfolg der Therapie bewirkt haben könnten. Überprüfen Sie den Erfolg jeder Sitzung und diskutieren Sie Fortschritte und Konsequenzen des neuen Verhaltens. Vereinbaren Sie zwischen den Therapieterminen Übungsaufgaben, die der Patient allein erledigt, und ermutigen Sie den Patienten zum täglichen Üben. Betonen Sie die Notwendigkeit regelmäßigen Übens für den langfristigen Erfolg. Verweisen Sie auf die Möglichkeit von zwischenzeitlichen Rückschritten und die Chance, daraus zu lernen. Vereinbaren Sie nach der Kurzzeittherapie gemeinsame Auffrischungssitzungen. Halten Sie den Termin auch dann ein, wenn es dem Patienten gut geht.
19. Ziehen Sie sich im Laufe der Sitzungen zunehmend zurück, falls Sie aus bestimmten Gründen mehrfach an der Konfrontationstherapie teilgenommen haben, und lassen Sie den Patienten das Konzept ohne Hilfestellung anwenden. Der Patient soll die Begegnung mit den gefürchteten Situationen möglichst oft allein üben bzw. anfangs mit Unterstützung durch einen Partner, eine andere Bezugsperson oder einen anderen Angstpatienten, wenn er doch noch nicht in der Lage ist, alles ohne Hilfestellung zu bewältigen. Als antidepressives Motto gilt: „Lieber mit Hilfe als gar nicht!“
20. Die Provokation von heftigen Panikattacken ist für die Bewältigung einer Agoraphobie nicht unbedingt erforderlich. Bei dieser Form der Konfrontationstherapie kommt es nicht darauf an, dass der Patient möglichst viele und starke Panikattacken erlebt. Wenn er die Bereitschaft zu einer Panikattacke mitbringt bzw. diese zumindest nicht vermeidet, falls sie doch auftreten sollte, sind Angst und Schrecken vor Panikattacken ohnehin bald Vergangenheit. Das Ertragen eines massiven Kontrollverlusts in Form einer heftigen Panikattacke ist für viele Agoraphobiker keine heilsame Erfahrung. Das optimale Lernen und Einüben neuer Erfahrungen wie etwa die Rückeroberung der Umwelt durch einen erweiterten Bewegungsradius erfolgt am besten auf einem mittleren Angstniveau und wird im Falle einer psychovegetativen Überaktivierung sogar gestört. Der Patient soll nicht primär seine Angst durch Habituation verlieren, sondern vielmehr neue Lebensmöglichkeiten entwickeln.
21. Akzeptieren Sie es, wenn der Patient nach reiflicher Überlegung und mehrfachem Üben erklärt, dass er zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestimmte Ängste nicht ändern kann oder will. Der Patient ist für sein Leben selbst verantwortlich und hat ein Recht darauf, so sein zu dürfen, wie er ist. Vielleicht braucht er jedoch Ihre Hilfe, sich mit seinen Ängsten besser annehmen zu lernen, ohne ständig das Ziel eines möglichst angstfreien Lebens vor Augen zu haben. Die Einstellung „Ich darf Angst haben“ bzw. „Ich bin auch trotz meiner Ängste ein liebenswerter Mensch“ kann bereits neue Verhaltensmöglichkeiten eröffnen.
22. Greifen Sie nach der Konfrontationstherapie bei Bedarf die dem Patienten bewusst gewordenen Themen und Problembereiche auf (z.B. Verlustängste, Todesängste, Angst vor Eigenständigkeit, Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen, mangelndes Vertrauen in sich und andere, Partner- und Familienkonflikte). Bieten Sie eine „Hintergrundsarbeit“ an, drängen Sie diese dem Patienten jedoch nicht auf.
Grundprinzipien der Konfrontationstherapie
Stellen Sie sich allen Angstsituationen, ohne auszuweichen! Wenn Sie Angst machenden Situationen ausweichen, wird Ihre Angst für die Zukunft fixiert, Ihr Selbstvertrauen reduziert, Ihr Bewegungsspielraum eingeengt und Ihre Abhängigkeit von anderen Menschen bzw. von Medikamenten verstärkt.
Verzichten Sie auf das irreale Ziel eines angstfreien Lebens und nehmen Sie sich vor, alles trotz Ihrer Ängste anzugehen, was Ihnen wichtig erscheint. Es ist verständlich, dass Sie nach Ihren Gefühlen handeln wollen. Bei Angstzuständen werden Sie dadurch jedoch ebenso zum Sklaven Ihrer momentanen Gefühle wie bei Depressionen, die gerade darin bestehen, dass Sie sich aus Lustlosigkeit zu nichts aufraffen können, was Sie früher im Leben gerne getan haben.
Bei der verhaltenstherapeutisch orientierten Depressionsbehandlung lautet das Motto: Aktivität verbessert die Stimmung. Dasselbe gilt bei der Behandlung der Agoraphobie. Die Betroffenen können nach den Grundprinzipien der Konfrontationstherapie allein vorgehen.
Das Agoraphobie-Selbsthilfebuch „Platzangst“, von Mathews, Gelder und Johnston in London erstellt und von Hand und Fisser-Wilke in Hamburg übersetzt und als erfolgreich überprüft, enthält 10 Regeln zur Bewältigung von Angst und Panik:
- Denken Sie immer daran, daß Ihre Angstgefühle und die dabei auftretenden körperlichen Symptome nichts anderes sind als eine „Übersteigerung“ der normalen Körperreaktion in einer Stresssituation.
- Solche Gefühle und Körperreaktionen sind zwar sehr unangenehm, aber weder gefährlich, noch in irgendeiner Weise schädlich. Nichts Schlimmes wird geschehen!
- Steigern Sie sich in Angstsituationen nicht selbst durch Gedanken wie: „Was wird geschehen“ und „Wohin kann das führen“ in noch größere Ängste hinein.
- Konzentrieren Sie sich nur auf das, was um Sie herum und mit Ihrem Körper wirklich geschieht – nicht auf das, was in Ihrer Vorstellung noch alles geschehen könnte.
- Warten Sie ab und geben Sie der Angst Zeit, vorüberzugehen. Bekämpfen Sie Ihre Angst nicht! Laufen Sie nicht davon! Akzeptieren Sie die Angst.
- Beobachten Sie, wie die Angst von selbst wieder abnimmt, wenn Sie aufhören, sich in Ihre Gedanken (Angst vor der Angst) weiter hineinzusteigern.
- Denken Sie daran, daß es beim Üben nur darauf ankommt zu lernen, mit der Angst umzugehen – nicht, sie zu vermeiden. Nur so geben Sie sich selbst eine Chance, Fortschritte zu machen.
- Halten Sie sich innere Ziele vor Augen, welche Fortschritte Sie schon – trotz aller Schwierigkeiten – gemacht haben. Denken Sie daran, wie zufrieden Sie sein werden, wenn Sie auch dieses Mal Erfolg haben.
- Wenn Sie sich besser fühlen, schauen Sie sich um und planen Sie den nächsten Schritt.
- Wenn Sie sich in der Lage fühlen weiterzumachen, dann versuchen Sie, ruhig und gelassen in die nächste Übung zu gehen.
Die Autoren empfehlen folgende Selbstinstruktionen in Angstsituationen:
- Meine Angstgefühle und die dabei auftretenden körperlichen Symptome sind verstärkte normale Stressreaktionen.
- Ich bin und bleibe körperlich gesund trotz der Angstreaktionen.
- Ich schwäche meine Angstreaktionen, wenn ich an etwas anderes denke.
- Ich bleibe trotz Panikgefühlen in der Realität. Ich beobachte und beschreibe, was ich momentan wirklich erlebe.
- Ich warte in der Situation, bis die Angst vorübergeht.
- Ich beobachte, wann und wie die Angst von alleine wieder abnimmt.
- Ich gebe mir eine Chance, einen Fortschritt zu machen und stelle mich jeder Angstsituation ohne Vermeidung.
- Ich führe jede Übung bis zum Abschluss durch.
- Ich kann stolz sein auf meine bisherigen Bemühungen und Erfolge, auch die kleinsten.
- Ich nehme mir Zeit für die Übungen.
Die verhaltenstherapeutisch orientierte Angstbehandlung beruht auf einem einfachen Grundsatz: Angstbewältigung kann nur erfolgen über ein intensives Erleben und Aushalten-Lernen von Angst. „Das Wesentliche im Umgang mit der Angst besteht darin, mit ihr mitzugehen, bis der Sturm vorüber ist“ (Marks).
Eine Panikattacke ist vergleichbar einer Meereswelle, die einen überflutet. Es ist besser, mit der Welle mitzuschwimmen, als gegen sie anzuschwimmen.
Wenn Sie Ihre Angst unterdrücken oder stoppen wollen, anstatt sie zu akzeptieren und anzunehmen, bleiben Sie unnötig lange angespannt. Der ständige Kampf gegen die Angst kostet sehr viel Kraft und führt zu chronischer Erschöpfung. Lassen Sie Ihre Angst daher zu wie Ihre Tränen in Phasen der Trauer.
Wenn Ihre Angst bei einer Konfrontationstherapie nach spätestens einer halben Stunde nicht abklingt, ist dies oft dadurch bedingt, dass Sie gegen das Auftreten einer Panikattacke ständig aktiv ankämpfen.
Eine Konfrontationstherapie ist dann am wirksamsten, wenn Sie bewusst gerade jene Situationen aufsuchen, die zu einer Panikattacke führen können. Ihr unerschrockenes Verhalten wird Ihnen zeigen, dass es gar nicht so leicht ist, eine Panikattacke zu provozieren, wenn Sie bereit sind, diese voll zuzulassen.
Verzichten Sie in Angstsituationen von sich aus auf jede Fluchtmöglichkeit und bestärken Sie sich darin immer wieder („Ich halte durch, was auch immer passiert!“), denn jeder Fluchtgedanke („Nichts wie weg!“) führt zu einer körperlichen Aktivierung.
Sie erleben in allen Angstsituationen letztlich die Angst vor den eigenen unkontrollierbaren Körperreaktionen, die Sie aushalten lernen. Je mehr Sie sich in Angstsituationen auf sich selbst verlassen und auf niemanden sonst (keinen Angehörigen oder anderen Helfer) und auch auf nichts anderes (kein Medikament oder anderes Hilfsmittel), umso schneller werden Ihre Ängste durch mehr Selbstvertrauen nachlassen.
Lassen Sie sich am besten täglich auf eine Konfrontation mit der Angst ein, indem Sie sich in angstbesetzte Situationen begeben und so lange darin bleiben, bis Ihre Angst sinkt oder überhaupt verschwindet.
Ihre anfängliche Angst bewirkt zuerst durch eine Adrenalinausschüttung eine Alarmreaktion Ihres Körpers, die nach 3-5 Minuten nachlässt, weil Sie sich an die Situation gewöhnt haben. Die weiteren Zustände Ihres Körpers sind leichter erträglich, wenn Sie nur die ersten fünf Minuten durchgehalten haben.
Verlassen Sie die Situation erst dann, wenn keine Angstreaktion Sie dazu treibt. Dieses Vorgehen stärkt rasch Ihr Selbstvertrauen. Bedenken Sie: Es ist nicht das Ziel, keine Angst mehr zu haben, sondern jede Angst besser aushalten zu lernen.
Die Konfrontation mit der Angst kann auf zweifache Weise erfolgen:
- Gestufte Reizkonfrontation: In kleinen Schritten werden immer schwierigere Aufgaben bewältigt, sodass das Selbstvertrauen langsam wachsen kann.
- Massierte Reizkonfrontation (Reizüberflutung): Es werden von Beginn an die größten Ängste provoziert, erlebt und ausgehalten, um Erwartungsängste zu verhindern.
Die gestufte und die massierte Reizkonfrontation mit „Reaktionsverhinderung“ (Ausharren in den Angst machenden Situationen ohne Flucht und Erleben der jeweiligen Angstreaktionen ohne Unterstützung durch Entspannungstechniken oder Medikamente) führen zu einer raschen und dauerhaften Beseitigung der lebenseinengenden Ängste.
Agoraphobie-Patienten mit Panikstörung sollten zu einer Kontrollverlusterfahrung im Sinne einer Panikattacke bereit sein, um besser mit ihrer Angst vor einer neuerlichen Panikattacke umgehen zu lernen. Die Angst vor einer Panikattacke ist meistens der Grund der Entscheidung für eine gestufte Angstbewältigung.
Ich gebe meinen Panikpatienten mit Agoraphobie folgende Informationen:
„Wenn Sie zu jenen Menschen gehören, die früher sehr selbstbewusst und ohne Zögern überall hingehen und hinfahren konnten und auch keinerlei Angst vor dem Alleinsein hatten, haben Sie Ihren Aktionsradius ziemlich sicher als Reaktion auf eine Panikattacke eingeschränkt. Sie fürchten nicht wirklich weite Plätze, enge Räume, Verkehrsmittel auf der Erde, unter der Erde oder in der Luft, große Entfernungen von zu Hause, Alleinsein zu Hause, Menschenmassen, die Abwesenheit von Vertrauenspersonen usw., sondern Sie fürchten, dass in diesen Situationen Ihr Körper verrückt spielen könnte und Sie ihn nicht in den Griff bekommen, sodass Sie sich aus Angst vor Ihrem Körper (Angst vor einer Panikattacke) und Ihrem Geist (Angst vor dem „Durchdrehen“) auf die Anwesenheit bestimmter Sicherheit gebender Personen (z.B. Partner) oder Mittel (z.B. Tabletten oder Handy) verlassen. Ein gestuftes Angstbewältigungstraining stellt für Sie keine wirklich neue Erfahrung dar, denn die dazu nötigen Fähigkeiten haben Sie früher schon oft genug gezeigt. Verhalten Sie sich wie vor der ersten Panikattacke, denn es kann Ihnen nichts passieren. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, wissen Sie, dass Sie zuerst lernen müssen, mit Ihrem Körper umzugehen, dann werden Sie auch mit den jeweiligen Situationen zurechtkommen, denn Sie fürchten sich nur vor sich selbst. Wenn Sie vor sich selbst keine Angst mehr haben, wird Ihre Agoraphobie bald verschwinden.“
Gestufte Reizkonfrontation
Es erfolgt ein schrittweises Vorgehen von leichteren zu schwierigeren Situationen, um langsam Selbstvertrauen aufzubauen. Spontan wird dieses Vorgehen von den meisten Betroffenen gewünscht, auch wenn sie oft nur langsam vorankommen und den nächstschwierigeren Aufgabenstellungen vielleicht mit Erwartungsängsten entgegenblicken.
Erstellung von Angsthierarchien
Erstellen Sie eine Liste Ihrer Ängste und reihen Sie diese nach dem Grad ihrer Bedrohlichkeit (Bewertung von 0-100). Nach der Erstellung einer Angsthierarchie werden die Ängste nach steigendem Schwierigkeitsgrad zu bewältigen versucht.
Man unterscheidet zwei Arten von Angsthierarchien (Auflistung der Ängste nach dem Schwierigkeitsgrad):
- Annäherungshierarchien. Das Angstausmaß wird durch das Ausmaß der zeitlichen oder räumlichen Nähe zu bestimmten Dingen oder Situationen bestimmt. Die Angst steigt, je näher man einem gefürchteten Reiz kommt, und sinkt, je größer der Abstand ist.
- Objekthierarchien. Die Ängste werden als unterschiedliches Ausmaß an Ängsten vor bestimmten Gegenständen, Lebewesen oder Situationen bestimmt. Vor bestimmten Objekten besteht eine größere Angst als vor anderen. Objekthierarchien sind sinnvoll, um die unterschiedlichen Angstsituationen nach dem Ausmaß ihrer Bedrohlichkeit darzustellen.
Anleitung eigenständigen Reizkonfrontation
Eine gestufte Reizkonfrontation ist dann sinnvoll, wenn Sie trotz der beruhigenden und entängstigenden Informationen in diesem Buch eine massierte Konfrontation allein nicht wagen. Bei gestufter Reizkonfrontation sind folgende Punkte zu beachten:
1. Legen Sie klare und konkrete Übungsziele auf einer Liste fest und reihen Sie diese der Schwierigkeit nach. Die Beschreibungen müssen so exakt sein, dass bei den verschiedenen Übungen Missverständnisse ausgeschlossen sind.
2. Gehen Sie schrittweise vor, indem Sie mit den leichtesten Übungen beginnen. Auf diese Weise sichern Sie sich Erfolgserlebnisse, die Ihnen Mut und Zuversicht zum weiteren Üben geben. Ein gewisses Ausmaß an Angst ist notwendig, um Angst machende Situationen bewältigen zu lernen. Keine Angstbewältigung ohne Angst!
3. Wiederholen Sie die einzelnen Übungen regelmäßig mit ansteigender Schwierigkeit, um Ihre Erfolge zu sichern und auszubauen. Wiederholen Sie die einzelnen Übungen zur Stärkung Ihres Selbstvertrauens bis zu dreimal täglich und steigern Sie den Schwierigkeitsgrad. Rechnen Sie damit, dass Sie gute und schlechte Tage haben und Ihnen die Übungen einmal leichter und einmal schwerer fallen werden.
4. Üben Sie in den nächsten Wochen so oft als möglich täglich mindestens 2-5 Stunden lang. Regelmäßiges Üben schafft rasch neue Gewohnheiten, während gelegentliches Üben stets neue Aufregung verursacht. Je öfter Sie etwas tun, umso selbstverständlicher wird es. Das ist das Wesen von Gewohnheitsverhalten.
5. Machen Sie „Zwischenübungen“ als Brücken zu schwierigeren Übungszielen. Wenn Sie einmal keine Fortschritte machen sollten, weil die Ziele zu hoch waren, wählen Sie Zwischenziele, um doch Erfolgserlebnisse zu haben.
6. Lassen Sie alle Angstsymptome zu, ohne dagegen anzukämpfen. So vermeiden Sie einen Anstieg der körperlichen und geistigen Anspannung. Beschreiben Sie Ihren inneren Zustand („Mein Herz rast, mir wird schwindlig, meine Brust wird eng“).
7. Wenn Sie aus Angst eine Situation verlassen haben, führen Sie dieselbe Übung noch am gleichen Tag erfolgreich durch. Auf diese Weise überwinden Sie Misserfolge.
8. Bei übermäßiger Angst entfernen Sie sich nur ein kleines Stück vom angstbesetzten Ort. Vermeiden Sie Flucht – und wenn, dann kehren Sie wieder in die Situation zurück, sobald Sie sich erholt haben. Ermutigen Sie sich durch aufmunternde Selbstgespräche („Ich schaffe es“, „Nach einer kleinen Erholungspause mache ich weiter“).
9. Verlassen Sie die Angst auslösende Situation erst dann, wenn Ihre Angst auf ein erträgliches Ausmaß gesunken ist. Verwenden Sie eine Angstskala von 0 (keine Angst) bis 10 (unerträgliche Angst) als „Angstthermometer“. Es ist kein Ziel, keine Angst mehr zu haben, sondern aufkommende Angst zu ertragen (z.B. Stufe 3-4).
10. Üben Sie auch an „schlechten Tagen“, dann vielleicht etwas weniger lang. Stimmungsschwankungen sind normal. Führen Sie Ihr Trainingsprogramm unabhängig von Ihrer Befindlichkeit durch. Sie benötigen die Erfahrung, dass Sie Ihre Ängste auch dann bewältigen können, wenn diese nach vorübergehender Besserung in einem Stimmungstief wieder vermehrt auftreten sollten. Sie müssen nicht topfit sein.
11. Üben Sie schwierigere Situationen zuerst zusammen mit einem Angehörigen oder einer Vertrauensperson. Wenn möglich, schließen Sie sich mit einer anderen, ebenfalls agoraphobischen Person zusammen oder trainieren Sie die Angstbewältigung im Rahmen einer Selbsthilfegruppe. Bewältigungserfahrungen zusammen mit anderen Menschen stärken Ihr Selbstvertrauen. Betrachten Sie jede aufgesuchte Situation jedoch erst dann als bewältigt, wenn Sie sich dieser auch allein auszusetzen wagen.
12. Rechnen Sie mit Rückschlägen, ohne sich davor zu fürchten, und nutzen Sie diese als Chance, etwas daraus zu lernen. Die stärksten Rückschläge erfolgen oft aus einer Panikattacke heraus. In diesem Fall sollten Sie erkennen, dass eine gestufte Angstbewältigung allein unzureichend ist, weil Sie dabei nicht lernen, mit extrem starken Ängsten umzugehen, wie diese bei Panikattacken auftreten.
13. Überlegen Sie bei Erfolgen durch eine gestufte Reizkonfrontation eine massierte Reizkonfrontation. Anstelle der Methode „Wasch’ mich, aber mach’ mich nicht nass“ sollten Sie direkt in das „kalte Wasser“ der Angst springen und eine massierte Reizkonfrontation allein, mit Hilfe einer vertrauten Person oder eines Psychotherapeuten beginnen. In diesem Fall lernen Sie, Ihre stärksten Ängste zu provozieren und damit umzugehen. Was fürchten Sie bei einer Panikattacke wirklich, wenn Sie glauben können, dass Sie dabei nicht sterben?
14. Nehmen Sie weder vor der Übung Beruhigungsmittel ein noch führen Sie diese während der Übungen mit sich, auch wenn Sie vorhaben, keine einzunehmen. Lernen Sie von Beginn an, sich ausschließlich auf sich selbst zu verlassen und nicht auf Beruhigungsmittel, die Sie wie einen Talisman mit sich führen. Sie schaffen damit die Voraussetzungen, dass Sie alle erreichten Erfolge sich selbst und nicht den Tabletten zuschreiben. Lassen Sie bei allen Übungen auch Ihr Handy zu Hause.
15. Wenn Sie derzeit Beruhigungsmittel nehmen, setzen Sie diese in Absprache mit Ihrem Arzt langsam ab, bevor Sie mit den Übungen beginnen. Eine Woche vor Beginn der Übungen sollten Sie frei von Beruhigungsmitteln sein. Wenn Sie sich gegenwärtig dazu nicht in der Lage fühlen, sollten Sie wenigstens alle Übungsaufgaben inklusive der schwierigsten mit Hilfe der Beruhigungsmittel bewältigen können, ohne dass Sie diese wegen der Übungen in verstärktem Ausmaß einnehmen. Anderenfalls geben Sie letztlich zu, dass Sie sich nicht einmal unter dem Schutz Ihrer Medikamente in Angst machende Situationen zu begeben wagen.
16. Wenn Sie derzeit Angst dämpfende Antidepressiva einnehmen, insbesondere solche, die nachweislich gegen Panikattacken wirken (so genannte Serotonin-Wiederauf-nahmehemmer), nehmen Sie diese in der verordneten Weise weiterhin ein, weil deren Wirksamkeit eine mehrmonatige kontinuierliche Einnahme erfordert. Wenn Sie zur mittelfristigen Unterstützung auf Anraten des Arztes diese Medikamente einnehmen sollen, beginnen Sie mit der Einnahme nicht gerade am Anfang der Konfrontationstherapie, zumindest nicht sofort mit der Zieldosis, sondern mit einer niedrigeren Dosis, d.h. nehmen Sie diese Medikamente in Absprache mit dem Arzt „einschleichend“ in wöchentlich steigender Dosis bis zur Zieldosis ein, weil diese Medikamente in den ersten zwei Wochen Nebenwirkungen haben können, wenngleich wesentlich geringere als ältere Antidepressiva. Sie könnten die Nebenwirkungen anderenfalls leicht als Angstsymptome im Rahmen Ihres Übungsprogramms interpretieren und wären dann gefährdet, Ihre Konfrontationstherapie einzustellen.
17. Achten Sie von Beginn Ihrer Konfrontationstherapie an darauf, dass Sie nicht so sehr gegen Ihre Ängste kämpfen, sondern vielmehr für Ihre Freiheit, tun und lassen zu können, was Sie wollen, d.h. üben Sie nicht nur das Aushalten unangenehmer Situationen, die auch weniger ängstliche Menschen ungern erleben, sondern unternehmen Sie viele Dinge, die Sie eigentlich gerne tun möchten. Dies stärkt Ihre Motivation zum Durchhalten. Vergegenwärtigen Sie sich, was Sie früher gerne getan haben, und malen Sie sich in der Fantasie möglichst plastisch aus, wie Sie jene Situationen aufsuchen können, deren Bewältigung Sie in der nächsten Zeit erst noch üben müssen. Hauptziel ist nicht, weniger Angst, sondern mehr Freude zu erleben.
Übungsvorschläge für eine gestufte Reizkonfrontation
Die folgenden Übungsvorschläge sollen eine Anregung darstellen, Ihre Ängste im Sinne einer Objekthierarchie darzustellen. Die einzelnen Aufgabenstellungen können Sie dann im Sinne einer Annäherungshierarchie je nach Bedarf leichter bzw. schwieriger gestalten.
- Führen Sie alle Übungen allein durch, um Ihr Selbstvertrauen zu stärken.
- Gehen Sie mindestens 20 Minuten lang in einem Supermarkt umher.
- Stellen Sie sich bei der Kasse in einer Schlange mit mindestens sechs Leuten an.
- Schauen Sie 15 Minuten lang in einem Kleidergeschäft die neue Mode an.
- Probieren Sie in Geschäften Kleidung oder Schuhe, ohne etwas zu kaufen.
- Bleiben Sie eine halbe Stunde lang in einem Lokal oder Café in der Mitte sitzen.
- Nehmen Sie ein Menü in einem überfüllten Restaurant ein.
- Gehen Sie in ein Konzert, Theater, Kino, in eine öffentliche Versammlung oder in einen Gottesdienst und bleiben Sie bis zum Ende.
- Setzen Sie sich im Kino oder bei einer Veranstaltung in die Mitte einer Reihe.
- Leisten Sie sich beim Friseur einen zeitaufwändigen Haarschnitt.
- Gehen Sie zum Zahnarzt, wenn Sie dies schon lange nicht mehr getan haben.
- Besuchen Sie eine Sportveranstaltung oder eine Freiluftveranstaltung mit vielen Zuschauern und üben Sie dabei auch das Stehen in einer Menschenschlange.
- Besuchen Sie einen Jahrmarkt oder Unterhaltungspark mit vielen Leuten.
- Fahren Sie auf dem Rummelplatz mit bisher stets gemiedenen Fahrzeugen (z.B. mit dem Riesenrad oder der Hochschaubahn).
- Gehen Sie für mindestens eine Stunde in ein überfülltes Hallenbad bzw. Freiluftbad.
- Gehen Sie für eine Stunde in eine öffentliche Sauna (mit Aufguss).
- Gehen Sie in einem Krankenhaus mindestens eine Stunde lang durch alle möglichen Abteilungen und fahren Sie möglichst oft mit dem Lift.
- Fahren Sie mit der Straßenbahn eine halbe Stunde sitzend in einem Viererabteil.
- Fahren Sie mindestens eine halbe Stunde lang stehend in einem Bus.
- Fahren Sie eine Stunde lang in der Stoßzeit mit einem öffentlichen Verkehrsmittel.
- Gehen Sie in einer überfüllten Straßenbahn von einem Ende bis zum anderen durch.
- Machen Sie mit dem Bus einen Tagesausflug zu einem Ort, an dem Sie noch nie waren, und schicken Sie Verwandten oder Bekannten eine Grußkarte.
- Fahren Sie mit dem Auto auf der Autobahn mindestens 100 km in eine Richtung.
- Fahren Sie mit einem Schnellzug mindestens 200 km weit weg.
- Besuchen Sie mindestens 100 km entfernte Verwandte oder Bekannte.
- Fahren Sie mit einem Schiff oder Boot über einen See bzw. machen Sie eine Seerundfahrt.
- Fahren Sie mit einer Seilbahn bis zur Endstation hinauf.
- Fahren Sie mit dem Auto durch einen längeren Tunnel.
- Fahren Sie in einem Hochhaus dreimal mit dem Lift auf und ab, ohne auszusteigen.
- Machen Sie beim nächsten Flughafen einen mindestens halbstündigen Rundflug.
- Gehen Sie durch einen langen düsteren oder unterirdischen Gang.
- Nehmen Sie an einer unterirdischen Führung teil (Bergwerk, Katakomben).
- Besteigen Sie einen Turm (z.B. den Dom oder Fernsehturm einer größeren Stadt).
- Gehen Sie eine offene Wendeltreppe (z.B. einen Notausgang) hinauf und wieder hinunter, während Sie in die Tiefe hinabblicken.
- Schauen Sie von einem mindestens sechs Stockwerke hohen Haus bei offenem Fenster oder vom Balkon hinunter, um Schwindelgefühle aushalten zu lernen.
- Gehen Sie über eine gefürchtete Brücke und schauen Sie in der Mitte auf den Fluss hinunter.
- Gehen oder laufen Sie mindestens eine Stunde lang durch einen Wald.
- Gehen Sie bei Nacht mindestens eine halbe Stunde lang in einer belebten Straße spazieren.
- Gehen Sie Blutspenden bei einer öffentlichen Blutsammelstelle.
- Machen Sie einen dreistündigen Stadtbummel ohne Mitnahme von Beruhigungsmitteln und lassen Sie auch Ihr Handy zu Hause.
- Fahren Sie in eine größere Stadt oder in eine Gegend, in der Sie sich nicht gut auskennen, und fragen Sie Leute auf der Straße nach einem bestimmten Ort.
- Verreisen Sie über Nacht in eine Stadt, in der Sie noch nie waren, ohne jemanden zu informieren, wo Sie sind, und übernachten Sie dort allein in einem Hotel.
- Übernachten Sie in einer voll belegten Jugendherberge.
- Bleiben Sie bei Ängsten vor dem Alleinsein mindestens vier Stunden lang allein in der Wohnung, ohne mit jemandem Kontakt aufzunehmen (auch nicht telefonisch).
- Bleiben Sie allein zu Hause und machen Sie bewusst etwas, wovor Sie sich bisher stets gefürchtet haben, z.B. Lesen eines Buches, in dem viel über gefürchtete Krankheiten steht, Vorstellung einer früheren oder zukünftig gefürchteten Panikattacke bei geschlossenen Augen, während Sie im Bett liegen.
Massierte Reizkonfrontation (Reizüberflutung)
Mutigen und Ungeduldigen ist eine massierte Reizkonfrontation (Flooding) zu empfehlen. Nach Ausschluss organischer Ursachen für Ihre Angstzustände sollten Sie sich täglich mindestens 4-6 Stunden lang mit den stärksten Angstreizen überfluten. Binnen weniger Tage bzw. weniger Wochen werden Sie Ihren früheren Bewegungsspielraum wiedererlangen und das Vertrauen in Ihren Körper wiedergewinnen.
Der bewusste Verzicht auf jede Fluchtmöglichkeit bei der Konfrontation mit den Angst auslösenden Reizen führt dazu, dass der Kampf-Flucht-Mechanismus nicht ausgelöst wird bzw. rasch wieder gedämpft wird.
Die Fluchttendenz mit der entsprechenden körperlichen Aktivierung ist immer dann am größten, wenn noch eine reale Chance zu entkommen besteht (kurz vor der Abfahrt der Straßenbahn, des Zuges, des Lifts, des Flugzeugs, d.h. unmittelbar bevor die Tür zugeht).
Wie rasch möchten Sie Ihre belastenden Ängste loswerden? Wenn Sie Ihre Ängste und Panikattacken schnell überwinden wollen, was hindert Sie dann eigentlich daran, zu den Mutigen zu gehören, wenn Sie glauben können, dass Sie körperlich gesund sind und durch eine intensive Konfrontation keinen körperlichen Schaden erleiden?
Wenn Sie den Mut haben, die stärksten Angstsituationen gleich zu Beginn aufzusuchen, dies anfangs jedoch nicht allein zu tun wagen, wählen Sie eine Person Ihres Vertrauens aus, die Sie anfangs dabei begleitet, bis Sie das Vertrauen zu sich gefunden haben, die entsprechenden Situationen auch alleine bewältigen zu können. Dieses Vorgehen bringt die schnellsten und anhaltendsten Erfolge.
Üben Sie die massierte Konfrontationstherapie vorher in der Vorstellung: Malen Sie sich die stärksten Belastungen aus – und auch, wie Sie darüber hinwegkommen.
Es gilt das Motto: „Was man sich nicht als bewältigbar vorstellen kann, kann man auch nicht oder nur schwer tun.“ Stärken Sie Ihre Erfolgserwartung, indem Sie die gefürchteten Situationen zuerst mental bewältigen lernen, wie dies auch Spitzensportler tun.
Wenn die Angstbewältigung trotz der richtigen Technik nicht gelingt
Mangelhafte oder ausbleibende Übungserfolge bei der Bewältigung der Agoraphobie, insbesondere wenn diese in bester Absicht und „technisch“ richtig durchgeführt wurden, sollten Anlass sein, nach den Gründen zu suchen.
Folgende Fragen sind hilfreich:
- Welche Vorteile könnten Sie mit dem Verlust der Agoraphobie ebenfalls verlieren?
- Welche anderen Probleme vermeiden Sie durch Ihre Agoraphobie?
- Welche Auswirkungen hätte die Bewältigung Ihrer Ängste auf Ihr Leben, insbesondere auf Ihre familiäre, partnerschaftliche und berufliche Situation?
- Was möchten Sie nach Beseitigung Ihrer Ängste tun und wie wichtig ist Ihnen dies?
Ihre Ängste können die Funktion haben, Sie vor noch größeren Problemen als Ihre Agoraphobie oder Panikattacken zu bewahren. Werden Sie die wiedergewonnene Freiheit auf Anhieb tatsächlich nützen können?
Hinter einer Agoraphobie kann die Angst vor Verantwortung und Freiheit stehen. Wenn Sie die Fesseln und Ketten Ihrer Ängste abgeworfen haben, können eventuell die Bürde der Verantwortung und der Freiheit sowie der Zwang zur Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen auf Sie warten.
Nach der Beseitigung Ihrer Ängste können Sie vielleicht vor der Situation stehen,
- Annehmlichkeiten zu verlieren (Umsorgtwerden, viel Zuwendung und Nachsicht, Unterstützung bei der Arbeit) und vieles wieder selbst erledigen zu müssen;
- als Mutter weiterhin bei den Kindern zu Hause zu bleiben oder berufstätig zu werden, wo Sie doch beides in bestmöglicher Weise miteinander verbinden möchten;
- den Arbeitsplatz wegen Unzufriedenheit zu wechseln und dabei das Risiko einzugehen, dies hinterher zu bereuen;
- sich vom Partner zu trennen, dann aber die Vorteile der Beziehung zu verlieren;
- sich dem Partner gegenüber zwar besser als früher durchsetzen zu können, aber deswegen auch Angst haben zu müssen, seine Zuwendung und Liebe zu verlieren;
- als Jugendlicher von zu Hause auszuziehen und ein selbstständiges Leben zu beginnen oder weiter unter den Einschränkungen im Elternhaus zu leiden.
Gründe für das Scheitern von Konfrontationstherapien
1. Fehlende Bereitschaft zu einer Panikattacke
Die Betroffenen stellen sich zwar allen Situationen, jedoch nur so, dass sie dabei auf keinen Fall eine Panikattacke erleben. Dies allein hält bereits eine Daueranspannung aufrecht.
Ohne die innere Bereitschaft zu einer Panikattacke bleibt ein Dauerstress bestehen, weil man ja ständig Vermeidungs- und Unterdrückungsmechanismen anwenden muss oder mental oder real auf der Flucht ist und damit angespannt bleibt.
Die Angst vor der Angst („Was wäre, wenn ...“) hält ständige Erwartungsängste aufrecht. Jede Vermeidungsreaktion verstärkt den Eindruck, einer bestimmten Erfahrung nicht gewachsen zu sein, sodass das weitere Vermeidungsverhalten bereits vorgezeichnet ist.
2. Die Art der körperlichen Symptome wirkt sich negativ aus
Eine Gewöhnung (Habituation) erfolgt leichter bei Herz-Kreislauf- und Atmungs-bezogenen Symptomen als bei chronischem Schwindel (bedingt durch Verspannung oder subklinische vestibuläre Missempfindungen) oder bei ständiger Durchfallangst.
3. Unkenntnis oder Unterdrücken der ärgsten Angst
Die wichtigsten Fragen bei einer Konfrontationstherapie lauten:
Was ist Ihre größte Angst bei einer Konfrontation mit gefürchteten Situationen?
4. Perfektionismus als Mittel der Angstbewältigung
- Jeder Perfektionismus („Wenn schon, dann muss ich alles super schaffen“) ist bei einer Konfrontationstherapie schädlich, weil er den Stress erhöht.
- Der Versuch, erlebte positive Erfahrungen bei einer Konfrontationstherapie zu generalisieren auf andere Situationen scheitert öfter an der mangelnden Fähigkeit zur Generalisierung von Erfahrungen. Der Grund liegt im Perfektionismus: „Es ist jetzt schon 20-mal gut gegangen, doch wird es auch beim 21. Mal gut gehen?“
- Intoleranz gegenüber jeder Form von Unsicherheit und Kontrollverlust verhindert jedes vertrauensvolle Sich-Einlassen auf neue oder unangenehme Situationen.
5. Eine Sozialphobie als Verstärkung der Agoraphobie
Eine Sozialphobie, bei der es um das Sozialprestige und nicht um Leib und Leben geht, hält trotz erfolgreicher Konfrontationstherapie eine ständige Anspannung aufrecht:
- Was werden die anderen über mich denken, wenn sie meine Symptome bemerken?
- Wenn ich in irgendeiner Weise negativ auffalle, bin ich dann „nervenschwach“, „psychisch nicht belastbar“, ein Schwächling, weniger liebenswert, weil schwach?
6. Die Einnahme bestimmter Mittel als Schwächung des Selbstvertrauens
Folgende Ratschläge können helfen:
- Keine Tranquilizer einnehmen oder mitführen!
- Keinen Alkohol als Pillenersatz verwenden!
- Keine Notfalltropfen mitnehmen, denn es besteht kein Notfall!
- Kein Handy verwenden, denn es besteht keine Lebensgefahr!
- Nicht auf andere Personen verlassen, nicht das Vertrauen auf sich selbst durch das Vertrauen auf andere ersetzen!
7. Ständige Ablenkungsversuche statt Zuwendung
Viele Angstpatienten möchten ihre Zustände durch Abwendung und Ablenkung bewältigen. Man wird jedoch eher ruhig, wenn man sich nicht pausenlos abzulenken versucht, sondern sich seinen Symptomen zuwendet und diese akzeptiert: „Ich spüre jetzt meinen Schwindel, mein Herzklopfen, meine weichen Knie usw., und ich gehe dennoch in die gefürchtete Situation und bleibe so lange, wie ich will, und nicht so lange, wie die Symptome diktieren möchten. Meine Symptome begleiten mich wie mein Schatten, doch ich bestimme den Weg.“
Laut Untersuchungen scheitert eine Konfrontationstherapie, wenn Patienten eine zu geringe emotionale Aktivierung aufweisen oder während der Expositionstherapie dissoziieren, d.h. sich ablenken und ihre Gefühle abspalten/unterdrücken.
8. Sekundärer Krankheitsgewinn
Symptome können zwar das Leben einschränken, aber auch verschiedene Vorteile haben, die von Psychoanalytikern „sekundärer Krankheitsgewinn“ genannt werden:
- Gibt es letztlich auch Vorteile aus der Agoraphobie?
- Was möchten Sie eigentlich vermeiden? Was steckt hinter Ihren Ängsten?
- Welchen anderen Konflikten gehen Sie aus dem Weg, die sofort und unweigerlich auftreten, wenn Sie alle gefürchteten Situationen problemlos meisten können?
9. Aktuelle depressive Symptomatik
Eine depressive Symptomatik ist u.a. charakterisiert durch eine körperliche und psychische Kraftlosigkeit. Man sollte daher in einer depressiven Phase gar nicht versuchen, durch eine derartige Aktivierung, wie sie bei einer gestuften oder massierten Konfrontationstherapie erforderlich ist, sein Selbstwertgefühl aufzubauen, denn es kann nur zu einem Misserfolg kommen, der die depressive Symptomatik noch weiter verstärkt.
Eine Konfrontationstherapie ist ungeeignet, das schwache Selbstbewusstsein in der Depression aufzubauen, weil wieder alles auf Leistung und Durchhalten ausgerichtet ist. Ein derartiges Denkmuster ist oft der Grund für eine „Erschöpfungsdepression“.
10. Psychosoziale Konfliktsituationen (Probleme in der Ehe, Familie oder Arbeit)
Oft stehen hinter einer Agoraphobie mit Panikstörung latente oder offene Partnerprobleme, die anfangs häufig nicht in Zusammenhang mit der Angststörung gesehen werden.
Eine Agoraphobie stellt dann eine Pattsituation dar, die den unbefriedigenden gegenwärtigen Zustand aufrechterhält. Dies ist so lange eine durchaus sinnvolle Problemlösung auf der Symptomebene, als man noch keine Entscheidung darüber getroffen hat, wie es mit der Partnerschaft weitergehen soll, wenn die Agoraphobie überwunden ist.
Neben Partnerproblemen sind sonstige familiäre Probleme (Konflikte mit den Eltern oder mit einem Kind) sowie Arbeitsplatzprobleme Panik begünstigende Stressfaktoren.
Eine zu rasche Symptombeseitigung kann manchmal zu psychosozialen Problemen führen, mit denen die Betroffenen und deren Angehörige oft nicht gerechnet haben.
11. Mangelnde Veränderungsziele nach der Konfrontationstherapie
Die „Wunder-Frage“ in der Psychotherapie nach Steve DeShazer lautet: „Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen in der Früh auf und Sie sind völlig gesund. Was würden Sie da tun? Was würde sich in Ihrem Leben dann ändern?“
Viele Angstpatienten haben vordergründig oft keine anderen Ziele, als ständig nur gegen ihre Ängste zu kämpfen.
Beantworten Sie zur Abklärung folgende Fragen:
- Was wollen Sie eigentlich im Leben erreichen, wenn Sie keine Symptome haben? Wenn es Ihnen nicht mehr schlecht geht, muss es Ihnen noch lange nicht gut gehen!
- Wofür lohnt sich der ganze Aufwand der Angstbewältigung? Was motiviert Sie?
- Was würden Sie sofort, in einem Monat, in sechs Monaten, in einem Jahr tun, wenn Sie keine krankhaften Ängste (Agoraphobie, Panikattacken) mehr hätten?
- Wie gerne sind Sie allein, wenn Sie nach gelungener Konfrontationstherapie allein sein können? Aktivitäten unternehmen bedeutet auch, allein etwas tun können. Was können Sie mit sich selbst anfangen, wenn Sie allein sind?
Kognitive Strategien der Angstbewältigung
Mentales Training
Der abstrakte Wille und Vorsatz allein ist auf Dauer für eine Verhaltensänderung eingefahrener Reaktionsmuster zu wenig.
Plastisch-konkrete Vorstellungen des Gelingens stärken die Motivation in schwierigen Zeiten und richten den Blick auf die positiven Möglichkeiten statt auf die Fehler und Schwächen, die in vielen Psychotherapien oft zu einseitig im Mittelpunkt stehen.
Angstpatienten können sich das, was sie fürchten, sehr bildhaft vorstellen, nicht aber die Art und Weise, wie es nach der Angstreaktion gut oder zumindest erträglich weitergehen könnte.
Menschen mit Panikattacken beschäftigen sich in der Fantasie oft mit dem Eintreffen gefährlicher Ereignisse nach dem Motto „Was wäre, wenn …“.
Sie grübeln ständig, sorgen sich um die Zukunft, malen sich schreckliche Bilder aus und brechen kurz vor dem Höhepunkt, vor dem negativsten Ereignis, ihre Fantasien ab, weil sie in Panik geraten.
Sie begehen den Fehler, nicht weiterzudenken und nach Bewältigungsstrategien zu suchen, sondern bleiben bei der Hilflosigkeit und Ohnmacht stehen.
Solange man nicht stirbt, gibt es immer mehrere Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte.
Das Durchspielen verschiedener Bewältigungsstrategien soll im Rahmen des mentalen Trainings gelernt werden. Angst ist immer Angst vor etwas.
Genau das, was man real nicht erleben möchte, muss man zuerst einmal mental bewältigen lernen.
Mentales Training dient bei Angststörungen dazu, in Gedanken bzw. durch möglichst bildhafte Vorstellung eine positive bzw. bewältigbare Lösung jener Situation durchzuspielen, vor der man Angst hat.
Was man sich nicht einmal vorstellen kann, kann man oft auch nur schwer tun. In diesem Sinn erleichtert jede anschauliche Vorstellung einer Bewältigungsreaktion die tatsächliche Handlungsbereitschaft.
Die typischen Katastrophenvorstellungen von Angstpatienten sind negative Vorstellungsbilder (Worst-Case-Szenarien), die durch alternative oder positiv-kreative Visualisierungen ersetzt werden sollen.
Der Begriff des mentalen Trainings ist sehr breit, theoretisch nicht eingeengt und aus dem Spitzensport gut bekannt, weshalb diese Bezeichnung in diesem Buch bevorzugt wird gegenüber Ausdrücken wie Visualisierung, Imagination, gelenkter Tagtraum, Selbsthypnose, hypnotische Trance.
Visualisieren bezeichnet ein Denken in inneren Bildern. Ein entspannter Zustand erleichtert die Entwicklung von inneren Bildern und Vorstellungen, ist jedoch nicht unbedingt notwendig. Entscheidend ist vielmehr die intensive, durch alle Sinne erleichterte Konzentration auf einen bestimmten Sachverhalt im Sinne einer Wahrnehmungseinengung, wie dies auch bei einer Hypnose der Fall ist.
Nach dem Carpenter-Effekt führt jeder Gedanke an eine bestimmte Tätigkeit zu entsprechenden Muskelstimulierungen. Dies gilt auch für Menschen mit Angststörungen. Der Gedanke, aus einer gefürchteten Situation am liebsten fliehen zu wollen, führt zu entsprechender muskulärer Aktivierung.
Wenn Sie bei Ihren Konfrontationsübungen bewusst auf Flucht verzichten, werden Sie nicht jeden Moment, wo diese (noch) möglich ist, Ihren Körper im Sinne einer Kampf-Flucht-Reaktion aktivieren.
Positive Vorstellungen (ein bestimmtes Ruhebild) sowie die Vorstellung des Gelingens einer Handlung (lebendige Vorstellung vom Ziel einer Übung bei Agoraphobie) bewirken angenehme körperliche Zustände.
Die Vorstellung einzelner Körperpartien sowie deren momentane Befindlichkeit und Tätigkeit verbessert die Wahrnehmung und die Funktionen des eigenen Körpers und führt zu einem besseren Körpererleben.
Mentales Training wird in den verschiedensten Bereichen eingesetzt:
- Die Astronauten der NASA werden auf Weltraumflüge vorbereitet, indem gefährliche, real nicht trainierbare Situationen mental simuliert werden, um die Reaktionsgeschwindigkeit in Notsituationen zu beschleunigen. Sie müssen „wie im Schlaf“ reagieren können bei Situationen, die sie noch nie erlebt haben.
- In der Wirtschaft und im Verkauf kann mentales Training in Form einer Motivationsstärkung bei schwieriger Marktlage erfolgen. Auch ein erfolgreicher Verkäufer kann nicht jederzeit den Umsatz steigern, er wird jedoch daran glauben, dass er z.B. bei der Aufschließung eines neuen Marktes letztlich erfolgreich sein wird.
- Bei Krebspatienten haben Visualisierungsübungen großen Anklang gefunden, die durch die plastisch-realistische Vorstellung der heilenden physiologischen Prozesse das Immunsystem und damit die Genesung unterstützen sollen. Diese Strategien verlängern nicht unbedingt das Leben, verbessern jedoch oft die Lebensqualität.
- In der Rehabilitation lernen Menschen, sich ihre geschädigten Körperteile intensiv zu vergegenwärtigen, wie diese früher gesund in Bewegung waren, um dadurch deren zukünftiges Funktionieren zu fördern.
- Im Sport wird das körperliche Training durch das mentale Training ergänzt, um die prinzipiell mögliche körperliche und psychische Leistungsfähigkeit zu mobilisieren.
Mentales Training wird seit Jahrzehnten im Sport zur Leistungssteigerung eingesetzt. Sportler spielen die Aufgabenstellung im Geiste x-mal durch, um sie besser bewältigen zu lernen.
Mentales Training bezeichnete ursprünglich ein mentales Bewegungstraining, d.h. ein planmäßig wiederholtes Sich-Vorstellen des zu erlernenden Bewegungsablaufs, und wird heute durch die Berücksichtigung kognitiver, emotionaler und motivationaler Aspekte im Sport viel umfassender eingesetzt.
Einige typische Einsatzmöglichkeiten des mentalen Trainings im Sport, die auch bei der Bewältigung von Angststörungen erfolgreich eingesetzt werden können:
- Zeit- und energiesparendes Leistungstraining. Auf dem Weg der oftmaligen Vorstellung erfolgt eine Automation und Verbesserung bestimmter Verhaltensweisen, ohne dass durch ständiges Training in der Realität die Leistungsreserven vorschnell ausgebeutet werden. Ein typisches Beispiel ist die vielfache mentale Bewältigung einer Lauf- oder Schwimmstrecke.
- Rasche Einübung komplexer motorischer Bewegungen. Die Vergegenwärtigung von Bewegungsabläufen bei bestimmten Sportarten und die plastische Vorstellung des Ablaufs eines ganzen Wettkampfs ermöglichen das Eintrainieren neuer bzw. adäquaterer Verhaltensweisen: den Speer oder die Kugel im richtigen Moment werfen, den Rückhandschlag beim Tennis verbessern, die Wurfgenauigkeit bei Korbball-Freiwürfen erhöhen, eine ungewohnte Sprungschanze überfliegen.
- Mentale Bewältigung von Krisensituationen. Die innere Vorbereitung auf einen Ernstfall bzw. Notfall verhindert eine Verletzung oder Katastrophe: mentale Bewältigung einer Sturzgefahr beim Slalom wegen eines eisigen Streckenteils oder Vorstellung einer gefährlichen Situation im Motorsport.
- Bestärkung des Glaubens an die Erreichbarkeit des Ziels. Ein Hochspringer sieht sich über eine bestimmte Marke springen, die er bisher noch nicht geschafft hat. Ein Slalomfahrer stärkt sein Selbstvertrauen, indem er eine schwierige Strecke im Geiste erfolgreich bewältigt. Ein Läufer sieht sich bei einem Wettlauf als erster im Ziel.
- Besseres Durchhalten während der sportlichen Leistung. Bevor der Körper nachlässt, hat der Geist schon aufgegeben. Es gilt daher, das Durchhalten zu stärken.
- Bessere Wettkampfvorbereitung von so genannten „Trainingsweltmeistern“, d.h. von Sportlern, die im Training oft erster werden, unter den Stressbedingungen des Wettkampfs jedoch versagen. Dies kann verschiedene Gründe haben: die Sportler können im Wettkampf mit dem Druck des Beobachtet-Werdens nicht umgehen; sie sind zu wenig spontan und locker, sondern bemüht-verkrampft; sie kämpfen mehr gegen das Versagen (und stellen sich dieses bereits sehr lebhaft vor) als für den Erfolg.
Zahlreiche sportliche Erfolge und wissenschaftliche Untersuchungen belegen die Wirksamkeit des mentalen Trainings. Durch die revolutionären Entwicklungen in der Hirnforschung können mittlerweile mentale Bewegungsprozesse (z.B. bildhafte Vorstellungen) auf dem Computerbild festgehalten werden.
„Einbildungen“ haben eine reale Grundlage im Gehirn und führen zu bestimmten physiologischen Befindlichkeiten. Mit der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) kann man Schnittbilder gewinnen, deren Farbgebung die örtliche Versorgung des Gehirns mit Blut und dem Energieträger Traubenzucker (Glukose) erkennen lassen.
Mentales Training bei Angstzuständen umfasst vier Abschnitte:
- Entspannungsinduktion. Entspannung soll eine Sammlung der Aufmerksamkeit nach innen bewirken und die Lebendigkeit der Vorstellungen steigern.
- Mentale Reizkonfrontation (Exposition in sensu). Intensive, plastisch-lebendige Begegnung mit den Angst machenden Situationen in der Vorstellung unter Einbeziehung aller Sinnesorgane, wodurch auch die bekannten körperlichen Angstreaktionen ausgelöst und toleriert werden.
- Bewältigung. Bestimmte Angstbewältigungsstrategien werden mental durchgespielt.
- Erfolgsinduktion (realistischer Erfolg). Die vorstellungsmäßige Vermittlung von realistischen Erfolgserlebnissen sichert die Motivation und bestärkt den Glauben an die Angstbewältigung in der Realität.
Nach einer Untersuchung zur Behandlung von Prüfungsängsten mittels Hypnose ist die Konfrontation mit Angst machenden Situationen allein wenig Erfolg versprechend, entscheidend ist vielmehr das mentale Eintrainieren von Bewältigungsreaktionen.
In ähnlicher Weise erreichten vergewaltigte Frauen, die mit Hilfe einer mentalen Konfrontationstherapie einen besseren Umgang mit den traumatischen Erinnerungen erlernt hatten, durch ein zusätzliches mentales Bewältigungstraining in Hinblick auf zukünftige ähnliche Situationen einen noch besseren Therapieerfolg.
Menschen mit Agoraphobie und sozialer Phobie können durch mentale Strategien dazu ermutigt werden, sich der gefürchteten Realität zu stellen. Durch ein derartiges Vorgehen wird die Erfolgserwartung gestärkt und die Erwartungsangst abgebaut.
Es kommt darauf an, sich zukünftige Problemsituationen durch mehrere konkret ausgestaltete Handlungsmöglichkeiten als lösbar vorstellen zu können.
Angstkonfrontationen in der Vorstellung können folgenden Sinn haben:
- Klärung und Identifizierung der konkreten Ängste: wahrnehmen und erkennen lernen, wovor man sich tatsächlich fürchtet, z.B. vor einer bestimmten körperlichen Reaktion, vor dem Blick der Leute, vor deren Nachrede.
- Differenzierung von Gefühlszuständen in bestimmten Situationen: Viele Angstpatienten neigen dazu, jede Erregung gleich mit Angst zu assoziieren, tatsächlich könnte es sich z.B. auch um eine wutbedingte Erregung handeln.
- Vorstellung der katastrophalen Folgen, die man in realen Situationen noch nicht zulassen kann und daher meidet bzw. flieht.
- Stärkung des Glaubens, dass man eine bestimmte Situation bewältigen kann, indem man sich diese einfach als bewältigbar vorstellt. Oft liegt das Problem gerade darin, dass man etwas tun soll, das man sich nicht einmal als bewältigbar vorstellen kann.
- Gewöhnung an Angst machende Situationen durch besseren Umgang mit Erwartungsängsten.
- Mentale Einübung neuer Fertigkeiten und Vorbereitung auf das Üben in einer ungewohnten oder gefürchteten Realsituation.
Mentales Training ermöglicht nicht nur die Etablierung positiver Sichtweisen und Bewältigungsreaktionen, sondern auch die Klärung von Einstellungen, Empfindungen und Konflikten, indem durch inneres Probehandeln ohne Risiko Alternativen abgewogen und innere Barrieren überwunden werden können.
Beim mentalen Training ist es wichtig, das Vorgestellte immer als gegenwärtig bzw. als bald, aber sicher eintretend zu visualisieren, auch wenn es sich um unsichere Situationen und zukünftige Ereignisse handelt. Hypnose, autogenes Training oder andere Entspannungstechniken verwenden ähnliche Vorgangsweisen.
Typische Beispiele sind:
- „Der rechte Arm ist ganz schwer.“
- „Die Atmung ist ruhig und regelmäßig.“
- „Der ganze Körper wird angenehm warm.“
- „Ich spüre, wie das langsame Ausatmen meinen Körper entspannt.“
- „Wenn mein Herz rast, wird es durch ruhiges Atmen wieder langsamer schlagen.“
- „Wenn mir beim Gehen schwindlig wird, bleibe ich aufrecht und gehe weiter.“
Grundsätzlich gibt es zwei Arten des Visualisierens:
1. Beobachterposition (sich von außen sehen)
Man erlebt das Vorgestellte wie in einem Film, d.h. man sieht sich selbst im Bild und beobachtet sich aus sicherer Distanz. In der Fachsprache bezeichnet man diesen Zustand als „Dissoziation“. Man sieht sich selbst wie auf einem Monitor oder einer Leinwand und spürt sich körperlich und gefühlsmäßig in der Rolle des Beobachters und nicht des Akteurs. Ein derartiges Vorgehen empfiehlt sich bei traumatisierenden Erfahrungen von Gewalt (z.B. körperliche Züchtigung, Vergewaltigung, schwerer Unfall), um eine unkontrollierbare emotionale Überwältigung und Retraumatisierung zu vermeiden, aber auch bei Ängsten, die die Betroffenen nicht frontal angehen möchten. Die Beobachterposition ermöglicht eine Distanzierung und erleichtert die Distanzierung gegenüber sich aufdrängenden Erinnerungen, die wie gegenwärtige Geschehnisse wirken.
2. Teilnehmerposition (sich von innen erleben: Einheit als Handelnder und Beobachtender)
Man erlebt sich als Handelnder, als ob das Ereignis gerade jetzt stattfinden würde, vergegenwärtigt durch alle Sinneskanäle. In der Fachsprache wird dieser Vorgang „Assoziation“ genannt. Es entsteht ein intensives emotionales Erleben, das überall dort angezeigt ist, wo es gefördert werden soll (z.B. Erleben von Wut, Trauer oder sexueller Erregung) oder zumindest besser ertragen werden soll (bei Angstzuständen und unvermeidlichen körperlichen Missempfindungen). Jede schöne Urlaubserinnerung und jede intensive Angstvorstellung stellt eine Assoziation dar, d.h. ein Empfinden, als ob das Vorgestellte gegenwärtig Realität wäre. Bei sexuellem Missbrauch müssen es die Betroffenen wieder lernen, eine Assoziation zur aktuellen Situation mit ihrem Partner und ihren eigenen körperlich-sexuellen Empfindungen herzustellen. Dies kann anfangs auch mental trainiert werden.
Wichtige Übungen können vorher auf Tonband gesprochen werden und dann immer wieder angehört werden. Die lebendige Vorstellung der Bewältigbarkeit einer Situation stärkt den Glauben daran, ähnlich wie die Vorstellung einer bevorstehenden Katastrophe die Angst vor deren Eintreten und damit das Vermeidungsverhalten bestärkt. In beiden Fällen ist es die plastisch-lebendige Vergegenwärtigung des Ausgangs eines Ereignisses in Form eines bestimmten Bildes oder einer Filmsequenz, die das vorherige Empfinden bestimmt (Angst oder Zuversicht).
Menschen mit Ängsten betreiben ständig eine „negative Selbsthypnose“. Sie haben die Fähigkeit zu sehr bildhaftem Denken, was bei Ängsten zur Belastung wird. Die imaginativen Fähigkeiten werden in der Therapie positiv genutzt. Zur Entspannung können bestimmte Techniken eingesetzt werden, die einen leichten Trancezustand bewirken. Eine vorherige Entspannung ist jedoch nicht nötig, wenn durch die Vorstellungsübung eine konzentrierte Aufmerksamkeit auf die gewünschte Situation gelingt.
Die möglichst plastisch-lebendige Vorstellung einer Angst machenden Situation (erlebte oder erwartete Panikattacke, realer oder gefürchteter Verlust eines geliebten Menschen, traumatisches Erlebnis, bevorstehendes Ereignis, phobische Situation) und deren Bewältigung kann durch folgendes Vorgehen gefördert werden:
1. Setzen Sie sich zu Hause in einen bequemen Lehnstuhl und schließen Sie die Augen. Stellen Sie sich vor, Sie schalten Ihren Fernsehapparat ein und schauen sich einen „Angstfilm“ an, einen Videofilm einer für Sie typischen Angstsituation (ähnlich wie Sie sich auch ein Urlaubsvideo anschauen würden). Sie haben dabei die Fernsteuerung in der Hand, um den Film je nach Bedarf steuern zu können.
2. Lassen Sie diesen Film mehrfach vor Ihren Augen ablaufen, bis zum Ende. Mit der Fernsteuerung können Sie diesen Film jederzeit vor- und zurückspielen bzw. anhalten, um ein Standbild zu erhalten. Sehen Sie sich selbst im Film, d.h. erleben Sie sich als distanzierter Beobachter. Entdecken Sie, dass Sie nur dann intensive Angst bekommen, wenn Sie sich selbst nicht mehr im Film sehen, sondern plötzlich als mitten drin im Geschehen erleben, wie wenn der Film gerade jetzt gedreht würde.
3. Vergegenwärtigen Sie sich bei aufkommender Angst beim Anschauen des „Angstfilms“, dass Sie zu Hause sitzen und sich das Angstgeschehen nur im Film ereignet. Nehmen Sie Ihre Körperposition im Lehnstuhl wahr und spüren Sie die Sitz- oder Liegefläche, die Lehne, die Ihren Rücken abstützt, den Stoff, den Ihre Hände berühren. Beobachten Sie den Raum, in dem Sie sich befinden, um das Hier und Jetzt zu betonen gegenüber vergangenen oder zukünftigen Angstsituationen.
4. Definieren Sie irgendeine Schlüsselerfahrung, die Sie zumindest durch ein Sinnesorgan sicher in der Gegenwart verankert, z.B. Ballen der Hand zu einer Faust, Blick auf ein bestimmtes Wohnzimmerbild, Hören Ihrer Lieblingsmusik im Hintergrund oder der Stimme einer vertrauten Person, Summen einer bestimmten Melodie, Zwerchfellatmung mit Heben und Senken Ihrer Hände auf der Bauchdecke, Spüren des Lehnstuhls, in dem Sie sitzen, Riechen des Geruchs des Partners oder des Wohnzimmers, Schmecken des Getränks, das Sie gerade trinken.
5. Wenn starke Angst aufkommt, können Sie den Film vorübergehend leiser oder dunkler drehen bzw. kurz ausschalten, jedoch nur dann, wenn Sie vorher bereit sind, nach kurzer Erholung den Film wieder einzuschalten, als Ausdruck dafür, nicht zu flüchten. Wenn Sie einen bestimmten „Angstfilm“ sehr bildhaft ablaufen lassen können, können Sie die Szenen auch laut kommentieren, wie wenn Sie diese einem Zuseher neben Ihnen beschreiben würden. Das Sprechen kann Ihnen während des Sitzens helfen, starke Anspannungen über die Mundbewegungen abzuführen.
6. Wenn Sie diese Technik einigermaßen beherrschen, können Sie sich vorstellen, wie der vorher gesehene „Angstfilm“ gerade gedreht wird, mit Ihnen als Hauptdarsteller(in), d.h. Sie wechseln in die Teilnehmerposition über.
7. Vergegenwärtigen Sie sich Ihren Körper, wie Sie ihn bisher im „Angstfilm“ gesehen haben, und erleben Sie sich so, als ob die Ereignisse gerade jetzt stattfinden würden. Bei bestimmten traumatischen Erlebnissen (z.B. Vergewaltigung, Verbrechen, Unfall) sollten Sie dieses Vorgehen jedoch nicht allein anwenden, sondern nur in Anwesenheit eines Therapeuten oder zumindest einer vertrauten Person, um bei Bedarf Unterstützung zu haben. Dann können Sie Ihr Erleben noch vertiefen, indem Sie die Ereignisse in der Ich-Form beschreiben („Ich sehe ... höre ... spüre jetzt ...“).
8. Sie können diese Schilderung auch auf Tonband festhalten und später immer wieder anhören, um sich besser daran zu gewöhnen. Oft geht es dabei um die Bewältigung der Erfahrung des möglichen Todes oder einer schweren Demütigung, die als völlige Hilflosigkeit und Ohnmacht erlebt wurde und anhaltend das Vertrauen in eigene Person und in die Umwelt erschüttert hat. Das ungewollte Wiedererleben des völligen Ausgeliefertseins stellt später ein Problem dar, wenn die Betroffenen nicht lernen, diese Erfahrung in ihre Person und den Kontext ihrer Erinnerungen zu integrieren, wie dies etwa bei einer Verhaltenstherapie von Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung gelernt wird.
9. Bei Bedarf wechseln Sie wieder in die Beobachterposition über und verankern Sie Ihr Erleben im Hier und Jetzt. Wenn Sie in mutiger Weise neuerlich in das Wiedererleben des belastenden Ereignisses einsteigen, tun Sie dies mit den seither gewonnenen Sichtweisen und Erfahrungen, d.h. Sie fügen den sich aufdrängenden Angstvorstellungen neue Elemente hinzu, sodass Sie trotz der realen Hilflosigkeit dennoch irgendwie stärker wirken.
10. Zur weiteren Stärkung Ihres Selbstvertrauens können Sie abschließend den Film in der Beobachter- und Teilnehmerposition wiederholt so ablaufen lassen, als würden Sie eine ähnliche Situation in der Zukunft erleben, wo es Ihnen allerdings gelingt, eine andere, positivere Bewältigungsstrategie anzuwenden und eine Wiederholung der traumatischen Ereignisse der Vergangenheit zu verhindern.
Im Folgenden werden Übungsvorschläge zum mentalen Training bei Agoraphobie bzw. Panikstörung vorgestellt, die je nach Bedarf individuell abgewandelt werden können.
Vorstellung einer real bewältigten Angstsituation (Blick zurück)
Erinnern Sie sich an eine Situation, die Sie früher gefürchtet haben, nunmehr jedoch bewältigen können, weil Sie diese bereits mehrfach intensiv erlebt haben. Vergegenwärtigen Sie sich diese Erfahrung vom anfänglichen Unbehagen an bis zur gelungenen Bewältigung.
Vorstellung einer erfolgreichen, in dieser Weise bisher noch nie gelungenen Angstbewältigung („Ein schöner Tagtraum“)
Vermitteln Sie sich in Form eines Tagtraums die mentale Erfahrung der Bewältigung einer in der Realität noch nicht erfolgreich erlebten Situation. Was Sie sich konkret vorstellen können, wird Sie stärker motivieren.
Vorstellung der erfolgreichen Angstbewältigung durch eine Modellperson
Stellen Sie sich vor, wie eine für Sie attraktive Modellperson die gefürchteten Angstsituationen meistert. Was würde diese Person in derselben Angstsituation denken und tun? Was tut diese Person, wozu Sie derzeit noch nicht in der Lage sind? Was lernen Sie daraus?
Lautes Verbalisieren der Angst machenden Vorstellungen
Die Wirkung der imaginierten Reizkonfrontation wird erhöht, wenn Sie bei geschlossenen Augen alles, was Sie sich vorstellen, laut aussprechen, um auf diese Weise in der Angstsituation zu verbleiben. Sprechen Sie dabei in der Ich-Form und in der Gegenwartsform, als ob die Ereignisse jetzt passieren würden. Nehmen Sie Ihre Angstgedanken bis zur vermeintlichen Katastrophe, aber auch Ihre Gedanken nach der überlebten Katastrophe, auf Tonband auf und hören Sie diese Ausführungen später immer wieder an. Besprechen Sie das Tonband, als würden Sie die Panikattacke oder die traumatisierende Situation momentan erleben und hören Sie das Band dann zusammen mit einer Vertrauensperson an.
Intensives Wiedererleben der letzten Panikattacke. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich die Situation rund um die letzte Panikattacke ganz konkret vor. Erleben Sie die Panikattacke im Zeitlupentempo noch einmal mental durch, und zwar in der Ich-Form und in der Gegenwartsform, z.B. „Ich atme jetzt schneller, mein Herz beginnt zu rasen, mir wird leicht übel, ich zittere leicht usw.“ Wie fängt die Panikattacke an, was macht sie ärger? Was ist das Schlimmste? Erinnern Sie sich dabei auch, wie Sie diesen Angstanfall überlebt haben. Wenn Sie vom gegenwärtigen Standpunkt aus auf die Panikattacke zurückblicken, stärken Sie Ihren Glauben an deren Bewältigbarkeit.
Bewusstes und intensives Erleben der bei einer Panikattacke ablaufenden Kreislaufreaktionen
Üben Sie folgende gelenkte Vorstellungsübung („Ohnmachtsangst“), um durch bewusste Konzentration auf die gefürchteten körperlichen Vorgänge diese besser ertragen zu lernen. Sprechen Sie den folgenden oder einen ähnlichen Text langsam und mit Pausen auf Tonband und hören Sie sich die Geschichte immer wieder an, bis Sie damit keine Probleme mehr haben.
Ich stehe da und habe Angst, bald umzufallen. Ich weiß nicht warum und lasse diese Erfahrungen dennoch zu. Meine Blutgefäße erweitern sich und mein Blutdruck sackt ab. Ich erlebe Schwindel, Druck auf der Brust, Schweißausbruch, Übelkeit, weiche Knie und Kribbeln in den Händen. Ich fürchte mich davor, ohnmächtig zu werden. Rundherum sind Leute, die mich sehen könnten, wie ich zu Boden sinke. Was werden die Umstehenden tun? Mich anstarren, mich angreifen oder die Rettung rufen? Ich kenne meine Zustände und werde es ablehnen, mich von einem Rettungswagen in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Und wenn ich doch mitfahren muss, werde ich dem Aufnahmearzt im Krankenhaus sagen, dass ich nicht aufgenommen werden möchte. Ich bin bereit, kurz ohnmächtig zu werden, die Kontrolle zu verlieren und mich den anderen Menschen hilflos auszuliefern. Ich möchte das wirklich einmal erleben, was ich die ganze Zeit fürchte, um die Erfahrung zu machen, dass ich es überlebe. Ich vergegenwärtige mir jene Situation, in der ich am ehesten umfallen oder eine Panikattacke erleben könnte. Ich stelle mir vor, wie sich in der Ohnmacht mein Blutdruck wieder normalisiert, sodass ich bald zu mir komme, sollte ich überhaupt ohnmächtig werden. Ich fürchte mich vor diesen Vorgängen, habe Angst umzufallen, möchte mich daher im Stehen am liebsten nicht bewegen oder zur Sicherheit hinlegen. Wenn ich mich jedoch nicht bewege, um den Blutdruck durch die Verengung meiner Blutgefäße rasch wieder zu heben, muss ich es aushalten lernen, wenn mein Herz durch einen Adrenalinstoß angekurbelt wird, um den Blutdruck zu heben. Ich spüre bereits, wie mein Herz zu rasen beginnt, um meinen Kreislauf wieder anzukurbeln. Das Pochen und Rasen meines Herzens macht mir Angst, dass mir etwas Gefährliches zustoßen könnte. Ich bewege mich intensiv, schüttle meinen Körper so, wie ein nasser Hund das Wasser abschüttelt, und erhöhe damit den Blutdruck derart, dass ich nicht mehr ohnmächtig umfallen kann. Die körperlichen Reaktionen zeigen mir, dass mein Körper richtig funktioniert und bemüht ist, mich vor einer Ohnmacht zu bewahren. Ich bin ganz gesund, wenn ich so dastehe und mein Herz und meinen Kreislauf bei der Arbeit erlebe. Ich beruhige mich, indem ich langsam durch den Mund ausatme und durch die Nase einatme. Was sich die Leute über mich denken, wenn Sie mich so sehen, ist mir egal. Jedem kann es einmal schlecht gehen. Doch nicht jeder hat den Mut, dies zu zeigen.
Zu-Ende-Denken der Angst machenden Gedanken im Sinne einer massierten Reizüberflutung („Die Katastrophe“: Das Allerschlimmste außer Sterben)
Die negativen Gedanken, was alles passieren könnte, kehren immer wieder, ohne jemals richtig zu Ende gedacht zu werden (z.B. „Was wäre, wenn ich einen Herzanfall bekomme, wenn ich umfalle, wenn ich keine Luft bekomme, wenn ich am ganzen Körper zittere?“). Das ständige Grübeln über Angstsituationen, ohne wirklich eine genaue Vorstellung davon zu haben, was im Extremfall passieren könnte (außer sterben), stellt letztlich eine Meidung der gefürchteten Situationen und Zustände dar und ermöglicht infolgedessen auch keine mentale Bewältigung. Oft verhindert gerade der Gedanke an den Tod die mentale Bewältigung von Vorstellungen des Zweitschlimmsten. Lassen Sie in Ihrer Vorstellung einen Film ablaufen, der nicht kurz vor bzw. während der größten Angst durch einen „Filmriss“ endet, sondern mit einem Katastrophenschluss (außer Sterben), egal welcher Art, denn jeder Schluss vermittelt die Botschaft: „Das Überleben ist allemal gewiss.“ Stellen Sie sich danach vor, wie es nach der „Katastrophe“ weitergehen könnte und entwickeln Sie mindestens drei Schlussversionen dieses Katastrophenfilms. Positives Denken bedeutet nicht, das Negative zu leugnen oder auszublenden, sondern real mögliche Gefahren und Probleme für bewältigbar zu halten.
Die Technik der Katastrophenfantasien wird auch von P. Watzlawick in dem Buch „Die Möglichkeit des Andersseins“ empfohlen: Klienten sollten mit dem Therapeuten nicht einfach nur darüber sprechen, wovor sie sich fürchten, sondern sich die katastrophalsten, unwahrscheinlichsten Folgen ausdenken, die ihr Problem haben könnte.
Vergegenwärtigung des eigenen Todes
Panikattacken lassen sich sehr schnell überwinden, wenn man sich in mutiger Weise der Unausweichlichkeit des Todes stellt.
Stellen Sie sich vor, Sie liegen auf dem Totenbett, noch voll bei Bewusstsein, aber in der Gewissheit, dass der Tod unmittelbar bevorsteht und vielleicht schon in der nächsten halben Stunde eintreten wird. Woran werden Sie sterben? Wie stellen Sie sich das Sterben vor? Wer soll nach Ihrem Wunsch an Ihrem Totenbett stehen? Von welchen Menschen fällt Ihnen der Abschied besonders schwer? Was möchten Sie den Umstehenden in Ihren letzten Worten mitteilen? Welches Testament werden Sie Ihren Angehörigen hinterlassen? Was kann Ihnen Hoffnung geben, dass die anderen nach einer Phase der Trauer ohne Sie gut weiterleben können? Von welchen nicht verwirklichten Lebensträumen müssen Sie Abschied nehmen? Auf welche der nicht gelebten Möglichkeiten können Sie am schwersten verzichten? Wie stellen Sie sich das „Sein nach dem Tode“ vor, z.B. als „Weiterleben“ in einer bestimmten Form oder als völlige Auslöschung Ihrer Person? Es gibt viele Beispiele dafür, dass Ruhe und Frieden in Sterbende und Todgeweihte einkehrt, wenn sie die Unvermeidbarkeit des Todes akzeptiert haben.
Wenn Sie diese Übung nicht allein durchführen können, weil Sie die „totale Panik“ fürchten, dann sollte Ihnen bewusst werden, dass Unmengen von Beruhigungsmitteln nicht ausreichen werden, die mit den Panikattacken verbundenen Todesängste zu beseitigen. Brauchen Sie wirklich auch dann noch abhängig machende Beruhigungsmittel und/oder eine lange Psychotherapie, wenn Sie die Todesangst als das schmerzliche Bewusstwerden der Endlichkeit Ihrer Existenz akzeptiert haben? Brauchen Sie vielleicht gerade deshalb eine zumindest kürzere Psychotherapie, weil Sie mit diesen existenziellen Ängsten gegenwärtig nicht umgehen können? Wie groß ist – in einem Prozentwert angegeben – der Anteil der Todesangst an Ihren krankhaften Ängsten? Oder leiden Sie unter einer Hypochondrie? Im Falle von Krankheitsängsten empfehle ich Ihnen meinen Selbsthilfe-Ratgeber: „Krankheitsängste verstehen und überwinden.“
Durchspielen der gefürchteten Situation in Form eines Rollenspiels, wobei Sie bei entsprechenden technischen Möglichkeiten auch eine Videoaufzeichnung vornehmen können. Stellen Sie sich zu Hause vor, wie Sie sich gerade in der Ernstsituation befinden. Wenn es Ihnen hilft, sich eine Situation möglichst realistisch zu vergegenwärtigen, können Sie dabei auch die Augen schließen. Spielen Sie dann buchstäblich in Form eines kleinen Stückes alles durch, was Ihnen real passieren könnte: Sie werden schwindlig, Sie schwanken, Sie wollen sich anhalten, tun es aber nicht, Sie beginnen vermehrt zu atmen oder halten die Luft an, Sie spüren, wie weich oder angespannt Ihre Knie sind, und lassen es zu, dass Sie umfallen, bleiben eine Weile liegen und versuchen sich dann langsam wieder zu erheben. Sie können den ganzen Ablauf auch so gestalten, dass Sie sich vorstellen, Sie seien eine Schauspielerin, die für die Zuschauer des Films genau das spielt und ausagiert, was Sie denken und fürchten.
Vorstellen der nächsten Panikattacke mit erträglichem Ausgang. Vorhandene Ängste werden gerade dadurch panikartig gesteigert, dass am Höhepunkt der Angstvorstellung (bildhafte Vergegenwärtigung von Herzinfarkt, Ohnmacht, Erbrechen, soziale Auffälligkeit wie Zittern usw.) ein „Filmriss“ erfolgt. Die Panikvorstellung ist das Ende, es geht nicht mehr weiter. Lernen Sie, diesen „Film“ innerlich fortlaufen zu lassen, sodass es zu einem erträglichen Ausgang kommt. Entwickeln Sie mindestens drei Varianten, wie Sie die für Sie bedrohliche Situation einigermaßen gut überstehen können.
In ähnlicher Weise lernen Menschen, wie sie mit Albträumen umgehen können, die sie nachts am Höhepunkt des Dramas, kurz vor dem vermeintlichen Ende, immer wieder munter werden lassen. In Tagträumen spielt man die Szene immer wieder durch und entwickelt ein Traumende mit konkreten Überlebensvorstellungen.
Zwei Beispiele zur Imagination einer bevorstehenden Panikattacke:
- Sie fürchten eine Panikattacke in der Straßenbahn oder im Bus. Sie bekommen bei geschlossenen Fenstern zu wenig Luft, Sie atmen verstärkt und spüren Ihren raschen Herzschlag. Es wird Ihnen übel und Sie haben Angst zu erbrechen. Sie fürchten sich davor, auffällig zu werden. Sie steigen jedoch nicht aus dem Verkehrsmittel aus, sondern setzen die Bauchatmung ein (zur Erleichterung Lufteinschnüffeln durch die Nase), während Sie Ihre Hand auf Ihre Bauchdecke legen und durch den Mund ausatmen. Nach einiger Zeit können Sie zwar erschöpft, jedoch mit einem Erfolgserlebnis an Ihrem Ziel aussteigen.
- Sie fürchten eine Ohnmacht in einem Geschäft. Sie fühlen sich im Supermarkt plötzlich schwindlig und der Ohnmacht nahe. Sie möchten bei vollem Einkaufswagen flüchten, sehen jedoch die lange Warteschlange bei der Kasse, sodass Sie nicht hinauskommen. Sie sind in der Falle, Ihre Angst steigt dadurch. Sie spüren, dass Sie keine Luft mehr bekommen, Ihr Herz schlägt bis zum Hals, Sie beginnen zu schwitzen und zu zittern. Sie erinnern sich an Ihre letzte Panikattacke, wo Sie Angst zu sterben gehabt haben. Sie möchten sich am liebsten am Einkaufswagen festhalten, tun dies jedoch bewusst nicht, sondern stehen frei und sind bereit umzufallen und auffällig zu werden. Sie haben den Eindruck, dass jemand etwas bemerkt haben könnte. Sie schütteln Arme und Beine kräftig durch (mutig vor anderen oder in einer Ecke), atmen intensiv über die Lippenbremse aus und durch die Nase ein („Einschnüffeln“ bewirkt Zwerchfellatmung). Sie bleiben aufrecht, gehen umher und beschließen, noch mindestens eine Viertelstunde zu bleiben, um Ihre ständige Fluchtbereitschaft zu überwinden. Abschließend loben Sie sich kräftig.
Negative Vorstellungen bei einer beginnenden Panikattacke durch positive überlagern. Vergegenwärtigen Sie sich die Empfindungen einer beginnenden Panikattacke und koppeln Sie diese mit einer anderen, positiven Körpererfahrung, z.B. mit einer gelungenen sportlichen Betätigung, einem schönen Urlaubserlebnis oder einer liebevollen Umarmung des Partners. Entwickeln Sie ganz konkrete, positive Vorstellungsbilder und damit verbundene angenehme Gefühle, die Ihre negativen Gedanken und Körperempfindungen überlagern. Setzen Sie dabei alle Sinneskanäle genauso ein, wie Sie dies unbewusst bei der Vorstellung von Angstsituationen tun. Trainieren Sie die vorstellungsmäßige Entwicklung wunderschöner Situationen, wo Sie sich grenzenlos wohl und geborgen fühlen, und überlagern Sie damit die aktuelle negative Befindlichkeit. Besonders hilfreich ist die Vergegenwärtigung schöner Erlebnisse. Mit dieser Übung sollen Sie lernen, einerseits negative Erinnerungen und Angst machende Vorstellungen bewusst zuzulassen, um sie dann durch einen positiven Fortgang zu bewältigen. Auf diese Weise machen Sie die Erfahrung, dass Sie nichts unterdrücken müssen.
Einige Beispiele zur Imagination positiver Erlebnisse sollen zu eigenen Ideen anregen:
- Urlaub am Meer. Sie liegen am Meer, lassen sich mit jeder Ausatmung angenehm schwer in Ihren Liegestuhl fallen, sehen die Weite des blauen Meeres, hören das Rauschen der Wellen, riechen den salzigen Seetang, spüren die warmen Sonnenstrahlen auf Ihrer Haut und die angenehm kühlende Wirkung der Meerestropfen in Ihrem Gesicht und genießen die Urlaubsstimmung. Was die Leute um Sie herum reden, ist Ihnen egal, auch wenn es über Sie sein sollte, denn Sie verstehen ihre Sprache überhaupt nicht.
- Bergerlebnis. Sie stehen sicher und fest auf einem Berggipfel, schauen auf das einzigartige Panorama hinab, erleben das beruhigende Grün der Berghänge, blicken auf den blauen Himmel, hören den heißeren Schrei einer Krähe, spüren einen angenehmen Lufthauch über Ihr Gesicht streichen, atmen die frische Bergluft ein und tanken sich dadurch auf mit neuer Energie, fühlen sich abgehoben vom Lärm des Tales, alles schaut so weit weg aus. Sie stehen souverän über den Dingen und können entscheiden, wann Sie sich wieder auf das Gewühl im Tal einlassen. Wenn auf Sie etwas bedrückend wirkt wie ein dominierender Berg in einem engen Tal, dann stellen Sie sich vor, Sie sehen alles vom Gipfel aus und blicken hinunter von der Weite des Bergkamms.
- Erfolgserlebnis. Vergegenwärtigen Sie sich eines Ihrer größten Erfolgserlebnisse und spüren Sie die dabei auftretenden körperlichen Empfindungen. Sehen Sie Ihr Verhalten wie in einem Videofilm vor sich und schlüpfen Sie in diesen Körper, wo Sie sich dann selbst nicht mehr sehen und plötzlich alles so erleben, als wäre es gegenwärtig. Spüren Sie mit allen Fasern Ihres Körpers die Kompetenz und den Wert Ihrer Person. Mit jeder Einatmung tanken Sie sich auf mit jener Kraft und Energie, die Sie aus diesem Erfolgserlebnis beziehen. Mit diesem Körpergefühl gehen Sie gelassen auf gefürchtete Situationen oder Personen zu.
- Lieblingsmusik. Schließen Sie Ihre Augen und vergegenwärtigen Sie sich mental Ihre Lieblingsmusik. Stellen Sie sich vor, Sie haben erstklassige Kopfhörer auf, versinken tief in der Welt der Musik und blenden die ganze Umwelt für einen bestimmten Zeitraum aus, um sich aufzutanken. Hören Sie die Melodie, erleben Sie den Rhythmus, der Sie mitreißt, bewegen Sie Ihren Körper bzw. Ihre Lippen, um Ihre lebendige Teilnahme zu verstärken, spüren Sie das angenehme Kribbeln in Ihrem Körper und lassen Sie angenehme Bilder aufkommen, die zu dieser Musik passen.
- Verknüpfung bestimmter Körperempfindungen bei Panikattacken mit anderen Erlebnissen. Körperliche Zustände wie Herzrasen, Atembeschleunigung, Heißwerden, Schwitzen, Schwindel usw. treten in zahlreichen anderen Situationen auf, die üblicherweise nicht mit Angst und Panik verbunden sind.
- Ein Saunabesuch. Stellen Sie sich die geschlossene Sauna kurz nach einem Aufguss vor und spüren Sie, wie Ihr Körper zu schwitzen beginnt und Sie so gut als möglich durchatmen. Vergegenwärtigen Sie sich, wie Ihr Herz dies aushält, auch die anschließende Abkühlung im kalten Wasser.
- Unmittelbar nach einer sportlichen Höchstleistung. Stellen Sie sich vor, Sie sind gerade ein längeres Stück so schnell wie möglich gelaufen, die Stiegen bis zum achten Stock eines Hochhauses rasch hinaufgegangen usw. Spüren Sie das Herzrasen, die Atemnot, den Schweiß und die Erschöpfung.
- Vorstellung eines großen Erfolgserlebnisses. Stellen Sie sich vor, Sie haben etwas geschafft und sind ganz aufgeregt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, z.B. Überreichung des Abschlusszeugnisses nach einer längeren Ausbildung.
- Ein schönes sexuelles Erlebnis. Stellen Sie sich vor, wie Ihr Herz schlägt, Ihre Atmung hörbar und schnell geht, Ihr Körper ganz angespannt und heiß wird und schließlich von Schweiß überzogen ist, bis Sie schließlich im Orgasmus das Gefühl bekommen, ganz weggetreten zu sein. Nicht selten haben Panikpatienten wegen der dabei erlebten körperlichen Zustände auch Angst vor sexueller Erregung.
Die Konzentration auf die Inhalte des mentalen Trainings wird oft durch Störgedanken oder Abschweifen beeinträchtigt. Ein direktes Dagegen-Ankämpfen führt jedoch oft zur Fixierung darauf. Hilfreich sind Vorstellungen, wie unerwünschte Gedanken von allein wieder so verschwinden werden, wie sie gekommen sind.
Störende Gedanken
- ziehen dahin wie die Wolken am Himmel,
- taumeln weg wie die Blätter im Herbstwind,
- werden weggetrieben wie Abfälle in einem Fluss,
- lösen sich auf wie der Nebel, der eine schöne Landschaft freigibt,
- werden in Kisten eingepackt wie Objekte und im Keller oder Dachboden abgestellt.
Viele Menschen glauben, sie müssten ihre negativen und ängstlichen Vorstellungen durch positives Denken ersetzen. Einseitig positives Denken und übertrieben positive Tagträume („Luftschlösser“) führen zur Entfernung von der Alltagswelt und bewirken keine Verbesserungen im Leben, weil sie die Schattenseiten des Lebens ausblenden.
Nach neueren psychologischen Forschungsbefunden sind positive Fantasien anfangs zwar sehr wichtig, um überhaupt Veränderungswünsche entstehen zu lassen, in weiterer Folge sind jedoch realistisch-negative Vorstellungen hilfreicher, um mit möglichen Problemen, Schwächen, Gefahren und Rückfällen besser umgehen zu lernen.
Nur die Vorstellung der konkreten Bewältigbarkeit hilft uns, daran zu glauben, dass unsere Träume Wirklichkeit werden können und die befürchteten Probleme lösbar sind.
In dem Buch „Psychologie des Zukunftsdenkens“ von Gabriele Oettingen werden verschiedene Studien beschrieben, die belegen, dass problemorientierte, realistische und damit auch negative Fantasien zu produktiveren Ergebnissen führen, als allzu positive Vorstellungen und Hoffnungen, die sich nicht mit konkreten Schritten beschäftigen, wie befürchtete Situationen bewältigt werden können. Die vorstellten mentalen Übungen zur Angstbewältigung entsprechen diesen psychologischen Erkenntnissen.