Platzangst - Agoraphobie bewältigen
Die wichtigsten Hilfestellungen zur Thematik der Agoraphobie finden Sie in meinem diesbezüglichen Patmos-Ratgeber um € 18,00.
Dieser Ratgeber fasst den aktuellen Wissenstand zur Forschung und Verhaltenstherapie bei Agoraphobie allgemeinverständlich zusammen.
Dieses Buch sollte daher jeder lesen, der neben den Hilfen 1-3 an weiteren Anregungen und Hilfestellungen interessiert ist.
Modifikation der gestuften Konfrontationstherapie
Meine therapeutischen Erfahrungen sowie neuere wissenschaftliche Erkenntnisse haben im Laufe der Jahre zu einer Modifikation der verhaltenstherapeutischen Vorgangsweise in der Behandlung von Menschen mit Agoraphobie geführt.
Umfangreich dargestellt wird dies in meinem oben angeführten Buch "Wenn Platzangst das Leben einengt. Agoraphobie bewältigen. Ein Selbsthilfeprogramm."
In diesem Ratgeber werden auch die neuesten lernpsychologischen Behandlungsansätze sowie das Konzept der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) vorgestellt und in die Behandlung integriert. Wenn Sie davon profitieren möchten, sollten Sie meinen diesbezüglichen Ratgeber erwerben.
Im Folgenden erhalten Sie eine modifizierte Anleitung zur gestuften Konfrontationstherapie in Form von 20 Punkten:
1. Vergewissern Sie sich vor Beginn der Konfrontationstherapie Ihrer körperlichen Gesundheit und Fitness.
Eine Konfrontationstherapie ist bei körperlicher Gesundheit völlig ungefährlich – trotz einer gewissen Belastung für den Organismus.
Lassen Sie sich vorher dennoch organmedizinisch abklären, um kein unnötiges Risiko einzugehen.
Bei Menschen mit subjektiv lebensbedrohlichen, objektiv jedoch völlig ungefährlichen Panikattacken ist dies meist ohnehin schon erfolgt, nicht selten sogar mehrfach.
Üben Sie bei körperlicher Sensibilität anfangs nur an Tagen, an den Sie körperlich fit und einigermaßen gut ausgeschlafen sind.
Achten Sie auf eine gesunde Ernährung, einerseits um für die Übungen genug Kraft und Energie zu haben, andererseits um Symptome der Unterzuckerung (Hypoglykämie) aufgrund von angst- und stressbedingter Appetitlosigkeit zu vermeiden.
Nehmen Sie ausreichend Flüssigkeit zu sich, jedoch weder aufputschende noch dämpfende Getränke.
Eine Flasche Mineralwasser können Sie durchaus mit sich führen, wenn Sie – wie viele andere Menschen mit Ängsten – in Stresssituationen eine belastende Mundtrockenheit bekommen.
Vergessen Sie auch bei länger dauernden Übungen nicht darauf, zwischendurch etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen bzw. sich in einem Lokal zu stärken.
2. Halten Sie im Fall der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten Rücksprache mit Ihrem Arzt.
Setzen Sie vor einer Konfrontationstherapie kein Medikament eigenmächtig ab in der bislang unbewiesenen Annahme, dass ein anhaltender Erfolg nur bei völliger Medikamentenfreiheit möglich sei.
Antidepressiva sollten Sie weiterhin einnehmen, wenn sie von ärztlicher Seite her als notwendig angesehen werden.
Im Fall einer gleichzeitig gegebenen Depression kann es sein, dass Sie erst durch das Antidepressivum wieder handlungsfähiger werden, also mehr Antrieb und eine bessere Stimmung bekommen.
Antidepressiva aus der Gruppe der sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, die den Botenstoff Serotonin im Gehirn erhöhen, sind laut Studien auch wirksam bei Angst- und Panikstörungen – zumindest bei einem Teil der Betroffenen.
Diese Mittel erfordern die tägliche Einnahme über ein halbes Jahr, wirken jedoch erst nach zwei bis drei Wochen und verursachen in dieser Zeit meist harmlose, aber unangenehme Nebenwirkungen, wie etwa Übelkeit, Appetitlosigkeit, Durchfall, Schwindel, innere Unruhe, körperliche Anspannung bis hin zu panikähnlichen Symptomen, bei abendlicher Einnahme auch Schafstörungen, bei manchen Männern und Frauen auch sexuelle Funktionsstörungen (Orgasmusprobleme).
Aus diesem Grund wird in den ersten drei bis fünf Tagen nur eine halbe Tablette verordnet, um die mögliche unangenehme Nebenwirkungen zu vermindern.
Beginnen Sie mit der Einnahme eines derartigen Antidepressivums nicht gerade zu Beginn der Konfrontationstherapie, um die unangenehmen körperlichen Angstsymptome nicht zusätzlich noch durch mögliche Nebenwirkungen des Antidepressivums aufzuschaukeln.
Zur Reduktion von Nebenwirkungen verschreiben Ärzte in den ersten zwei bis drei Wochen vorübergehend auch ein Beruhigungsmittel, das vor allem auch die normalen Angstsymptome in agoraphobischen Situationen ohne Ihr Zutun vermindert.
Setzen Sie vor Beginn der Konfrontationstherapie in Absprache mit dem Arzt ein phasenweise eingenommenes Beruhigungsmittel langsam „ausschleichend“ ab.
Im Fall der mehrmonatigen oder gar mehrjährigen Einnahme eines derartigen Mittels aus der Gruppe der Tranquilizer, das innerhalb von einigen Monaten zur Abhängigkeit führt, sollten Sie vorher eine ambulante oder stationäre Entzugsbehandlung machen.
Mit Übungen sollten Sie erst dann beginnen, wenn Sie mindestens eine Woche lang kein Beruhigungsmittel eingenommen haben, weil sonst mögliche Entzugssymptome einen negativen Einfluss auf die Konfrontationstherapie ausüben könnten.
Auf die Einnahme eines Beruhigungsmittels vor den Übungen sollten Sie am besten von Anfang an oder zumindest im Laufe Ihrer Selbstbehandlung verzichten, weil Sie auf diese Weise nicht wirklich mit Ihrer Angst, Furcht und Panik umgehen lernen, zumal Sie sich dabei auf die Wirkung des Mittels und nicht auf sich selbst und Ihre Möglichkeiten verlassen.
Im Fall einer unmittelbar bevorstehenden Panikattacke ist die Einnahme eines rasch, das heißt in knapp einer halben Stunde wirkenden Mittels ohnehin zu spät.
Im Fall von reinen Erwartungsängsten bezüglich einer Panikattacke wären Sie in Gefahr, zum Dauer-Konsumenten zu werden.
3. Erstellen Sie eine Liste aller geplanten Übungsaufgaben.
Machen Sie sich Ihre Behandlungsziele bewusst und setzen Sie diese in konkrete Übungsaufgaben um.
Unterscheiden Sie zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Zielen, die Sie erreichen möchten.
Formulieren Sie die einzelnen Aufgaben so anschaulich, dass Sie selbst sowie auch andere Menschen deren erfolgreiche Ausführung später leicht überprüfen können.
Formulieren Sie Ihre Ziele positiv in dem Sinn, dass Sie angeben, was genau Sie tun und erreichen möchten, und nicht negativ in dem Sinn, dass es Ihnen bei den einzelnen Übungen nicht schlecht gehen soll.
Typische Beispiele dafür sind:
eine halbe Stunde allein in einen Supermarkt gehen oder mit dem Bus fahren; in einem Geschäft oder bei einer Behörde in einer längeren Schlange stehen; im Kino, Theater, Konzertsaal oder Gottesdienst sowie bei einer anderen Veranstaltung bis zum Ende bleiben; mit dem Aufzug mindestens fünf Stockwerke fahren; mit dem Auto 50 km auf der Autobahn oder durch einen längeren Tunnel fahren; mit dem Zug 100 Kilometer weit weg fahren: in einer Stadt zwei Stunden lang mit drei verschiedenen Verkehrsmitteln fahren.
Reihen Sie alle geplanten Aufgaben der Schwierigkeit nach und vergegenwärtigen Sie sich dabei auch, durch welche Aspekte bestimmte Aufgaben leichter sind als andere.
Fallen Ihnen bestimmte Aufgaben leichter, weil Sie dabei weniger Angst haben oder weil Sie aufgrund Ihrer Werte und Lebensziele eine größere Motivation haben?
Oder weil Sie bereits auf einzelne Erfolgserlebnisse in bestimmten Bereichen zurückblicken können?
Sind die schwierigsten Situationen jene, in denen Sie eine Panikattacke ohne Sicherheit gebende Umstände fürchten oder eine andere bestimmte Symptomatik wie Schwindelattacken mit der Angst umzufallen oder Harn- oder Stuhldrang ohne Toilette in der Nähe?
Oder treten die größten Ängste dann auf, wenn Sie die Situation auf keinen Fall verlassen können, wie etwa im Flugzeug oder in einer Gondel, auch wenn Sie wissen, dass Sie dabei nicht abstürzen werden?
Welcher „rote Faden“ zieht sich bei den unterschiedlichen Übungsanforderungen durch?
4. Entwickeln Sie einen Behandlungsplan nach ansteigender Aufgabenschwierigkeit und gehen Sie dann Schritt für Schritt vor.
Gestalten Sie die Konfrontationstherapie so, dass sie auf jeden Fall ein Erfolg wird. Wählen Sie den Weg der kleinen Schritte, statt sich durch zu hohe Ansprüche zu überfordern.
Beginnen Sie mit den leichtesten Aufgaben, um rasch Erfolgserlebnisse zu haben, die Ihre Hoffnung und Zuversicht auf weitere Fortschritte bestärken. Machen Sie dabei die Erfahrung, dass Sie gefürchtete Situationen aushalten können und nicht weiterhin vermeiden müssen.
Halten Sie sich bei Schwierigkeiten immer wieder vor Augen: Angst lebt von der Vermeidung.
Gehen Sie zu schwierigeren Aufgabenstellungen über, sobald die leichteren Aufgaben für Sie keine Herausforderung mehr darstellen.
Wenn Ihnen verschiedene Übungen langweilig werden, kann es sein, dass sie Ihnen bereits zu leicht geworden sind, sodass Sie zu anspruchsvolleren wechseln sollten.
Üben Sie zu vorher fix festgelegten Zeitpunkten, damit Sie nicht aus Angst oder Unwohlsein zum Verschieben neigen, ähnlich wie Sie aufgrund einer sinnvollen Tagesstruktur zu bestimmten Zeiten arbeiten, lernen, essen, Sport treiben oder Musik machen.
Dokumentieren Sie alle Konfrontationsübungen in Ihrem Angsttagebuch nach Zeit, Ort, Art und Dauer der Übung sowie auch Ihr jeweiliges Befinden vor, während und nach der Konfrontationstherapie.
5. Festigen Sie Ihre Erfolge durch Wiederholung in verschiedenen Situationen.
Übung macht den Meister! Wiederholen Sie alle Aufgabenstellungen – die leichteren genauso wie die schwierigeren – in unterschiedlichen Situationen sowie zu verschiedenen Zeitpunkten.
Stabil sind Ihre Fortschritte erst dann, wenn Sie dieselben Übungen unter wechselnden Umständen durchführen.
Machen Sie jede Übung mehrfach am Tag bzw. in der Woche in ähnlichen Situationen, dann aber auch in völlig unterschiedlichen Situationen, damit eine Generalisierung Ihrer Erfolge auf möglichst viele Bereiche Ihres Lebens einsetzt.
Regelmäßiges Üben schafft nach einiger Zeit neue Gewohnheiten und führt schneller zur Gewöhnung an früher belastende Situationen als nur gelegentliches Üben, das immer wieder neue Erwartungsängste aufkommen lässt.
Die jeweiligen Aufgaben werden dadurch zu Routinehandlungen ohne besondere Anstrengung und Beachtung. Das ist das Wesen von Gewohnheitsbildungen: Je öfter Sie etwas tun, umso selbstverständlicher wird es.
Sinnvoll sind im Rahmen eines Zeitraums von mindestens vier Wochen tägliche Übungseinheiten von mindestens einer Stunde oder blockweise Übungen von mehreren Stunden Dauer.
Alternativ ist auch ein drei- bis sechsmonatiges Übungsprogramm hilfreich, wenn Übungen nur an bestimmten Tagen möglich sind.
6. Wählen Sie Zwischenziele, wenn die ursprünglichen Ziele zu hoch gesetzt waren.
Es kann sein, dass Sie zu schnell von leichteren auf schwierigere Aufgabenstellungen übergegangen sind und deshalb kein Erfolgserlebnis bei einer anspruchsvolleren Übung erreichen.
Akzeptieren Sie diesen Umstand, statt sich zu überfordern, und entwickeln Sie verschiedene Zwischenziele auf dem Weg zum gewünschten größeren Erfolg.
„Zwischenübungen“ als Brücken zu schwierigeren Aufgaben helfen Ihnen, weiterhin Erfolgserlebnisse zu haben, eben auf einem geringeren Anspruchsniveau, auf dem Sie dann weiter aufbauen können.
Es kann aber auch sein, dass sich die ursprüngliche Reihung der Aufgaben nach dem Schwierigkeitsgrad als falsch herausgestellt hat, sodass Sie Ihr Vorgehen entsprechend abändern müssen.
Wenn Sie an Ihrem Plan festhalten möchten, kann die Erleichterung der Aufgabenstellung darin bestehen, dass Sie eine vorerst allein nicht bewältigbare Aufgabe zuerst zusammen mit einer Vertrauensperson erfolgreich durchführen.
7. Üben Sie unabhängig von Ihrer Befindlichkeit.
Rechnen Sie damit, dass Sie gute und schlechte Tage haben werden, die gar nichts mit Ihrer Angst, Furcht und Panik zu tun haben müssen.
So ist das Leben: Schwankungen Ihrer Befindlichkeit sind völlig normal. Akzeptieren Sie den Umstand, dass Sie weder Ihre Angst und Furcht noch Ihre körperliche und psychische Allgemeinbefindlichkeit „im Griff“ haben.
Emotionale und körperliche Befindlichkeiten können Sie nicht mit der Logik Ihres Verstandes und der Kraft Ihres Willens kontrollieren, wohl aber können Sie entscheiden, welche Taten Sie aufgrund Ihrer Werte und Ziele setzen möchten.
Handeln Sie aufgrund eines Trainingsplans und nicht aufgrund Ihrer Stimmung. Üben Sie auch bei schlechterer Befindlichkeit, außer im Fall einer Depression oder einer körperlichen Erkrankung, dann aber etwas weniger.
Sie müssen für eine Konfrontationstherapie nicht topfit sein, reduzieren sie jedoch an schlechten Tagen das Zeitausmaß und das Anspruchsniveau der Übung und seien Sie mit kleineren Erfolgserlebnissen zufrieden, statt sich durchhängen zu lassen und gar keinen Schritt zum Erfolg zu setzen, der Ihnen vielleicht doch ein kleines Erfolgsgefühl bereiten könnte.
Oft zählt der Erfolg bei einer leichteren Aufgabe unter schwierigeren Bedingung mehr als der Erfolg bei einer anspruchsvolleren Übung unter leichteren Bedingungen.
8. Rechnen Sie mit Rückschlägen, ohne sich dadurch entmutigen zu lassen.
Fortschritte stellen sich meist nicht linear „fort-schreitend“ ein, sondern erfolgen oft in Form von Wellen. Finden Sie die möglichen Ursachen für einen Rückschlag heraus.
Oft hängen Rückfälle mit verschiedenen Belastungssituationen im Leben zusammen, die einem die Kraft rauben, das erreichte Erfolgsniveau durchgehend zu halten.
Machen Sie sich bewusst, welche zentralen Lebensthemen und Gefühlskonflikte den Rückschlag ausgelöst haben könnten.
Akzeptieren Sie diesen Umstand, ohne zu resignieren. Sie können zwar Ihre momentane Lebenssituation nicht ändern, Sie können jedoch in der subjektiv bedrohlichen agoraphobischen Situation durchaus erfolgreich handeln, weil es hier nur auf Ihre Person und Ihr Verhalten ankommt.
Rückfalle treten vor allem auch nach neuerlichen Panikattacken oder panikähnlichen Symptomen auf, sodass die Angst vor einer weiteren Attacke ein Vermeidungsverhalten begünstigt angesichts von Situationen, die man früher schon problemlos bewältigt hat.
Beginnen Sie, sobald Sie wieder mehr Kraft und Energie haben, mit leichteren Übungsaufgaben, um weitere Erfolgserlebnisse zu feiern, statt sich als Versager zu betrachten und zu resignieren.
9. Bleiben Sie am besten so lange in der Angst machenden Situation, bis Ihre Furcht und körperliche Erregung ganz von alleine nachlassen.
Im Fall von Flucht und Vermeidung verhindern Sie die wahrscheinliche Erfahrung von Erfolg.
Verlassen Sie daher nach dem Grundsatz „Standhalten statt flüchten“ alle gefürchteten Situationen soweit wie möglich erst dann, wenn Ihre Angst auf ein erträgliches Ausmaß gesunken ist.
Verwenden Sie eine Angstskala von 0 (keine Angst) bis 10 (unerträgliche Angst) als „Angstthermometer“. Es ist kein Ziel, keine Angst mehr zu haben, sondern aufkommende Angst besser als bisher ertragen zu lernen, etwa auf Stufe 3 oder 4.
Geben Sie Ihrer Angst etwas Zeit, bis sie innerhalb von fünf bis fünfzehn Minuten nach einem unangenehmen Anstieg ganz von alleine wieder abnimmt.
Schieben Sie Ihren Fluchtimpuls von Minute zu Minute hinaus, bis er schließlich durch die Gewöhnung an die Situation nachlässt.
Erwarten Sie durch eine Konfrontationstherapie trotz Abfall der Angst nach starkem Anstieg in gefürchteten Situationen keine völlige Angstfreiheit, sondern nur, dass Sie die verbleibende Restangst besser aushalten können, um Ihre Ziele erfolgreich zu erreichen.
Eine Konfrontationstherapie ist kein Wundermittel gegen Angst, sondern der Weg zu einem erwünschten Ziel.
Das Gegenteil von Angst ist nicht keine Angst, sondern Vertrauen – Vertrauen zu Ihren Fähigkeiten, mit allen unsicheren und unerwarteten Situationen zurechtkommen zu können, weil Sie sich zumindest vor sich selbst und Ihren Symptomen nicht mehr fürchten, sodass Sie nicht ständig an Flucht und Vermeidung denken müssen, sondern an kreative Lösungsmöglichkeiten für bestehende Probleme.
Versetzen Sie sich bei Ihrem Übungsprogramm nicht in den Stress, um jeden Preis in allen Situation bis zum Ende durchhalten zu müssen.
Es ist keine Niederlage, wenn alles nicht gleich so gut läuft, wie Sie es sich vorgestellt haben. Gönnen Sie sich in belastenden Situationen eine kleine Verschnaufpause.
Begeben Sie sich zur Erholung an einen Ort in der Nähe der gefürchteten Situation, ohne diese völlig zu verlassen.
Stärken Sie sich durch ein Getränk oder einen kleinen Snack, wie einen Apfel oder ein paar Nüsse. Häufig sind Sie in der Angstsituation nur angespannt ohne Bewegung.
Bewegen Sie sich ein wenig, um Ihre Anspannung oder Erstarrung zu lockern, ohne jedoch davonzulaufen.
Typische Beispiele dafür sind:
Gehen Sie im Kino oder Theater auf die Toilette oder kurz in die frische Luft, um sich zu stärken und danach wieder in den Raum hinein; verlassen Sie die Schlange an der Kasse eines Supermarkts, fahren Sie mit Ihrem Einkaufswagen noch eine kleine Runde und stellen Sie sich danach neuerlich an.
Viele Verhaltenstherapeuten haben früher und oft auch noch heute ihre Klientinnen aufgefordert, um jeden Preis in der Angstsituation auszuharren, weil durch Flucht die Angst nur noch größer würde.
Grundsätzlich besteht diese Gefahr, sie ist jedoch nicht immer gegeben. Verschiedene Studien belegen, dass durch das Verlassen der Situation keine Verschlimmerung der Angst auftritt, vor allem dann nicht, wenn die Bereitschaft besteht, zu einem späteren Zeitpunkt die Aufgabenstellung erfolgreich zu erledigen.
Im Gegensatz zur Theorie und Praxis der klassischen Konfrontationstherapie gebe ich Menschen mit Agoraphobie schon seit vielen Jahren sehr erfolgreich Worte wie diese mit auf den Weg zur Konfrontation mit gefürchteten Situationen:
„Sie sind ein freier Mensch und haben die Wahlfreiheit zwischen Gehen und Bleiben. Erlauben Sie sich, die Angstsituation jederzeit zu verlassen, wenn dies grundsätzlich möglich ist. Bei einer Agoraphobie fühlen Sie sich eingeengt durch die jeweilige Situation. Sie sollten sich nicht zusätzlich auch noch einengen durch Ihren eigenen Anspruch, um jeden Preis durchhalten zu müssen. Das bereitet Ihnen nur unnötigen Stress und körperliche Verspannungen.“
Das Gefühl von Autonomie und Kontrolle, von Wahlmöglichkeit und Entscheidungsfreiheit – auch für ein langfristig nicht erwünschtes Verhalten wie Flucht – ist für viele Agoraphobiker kurzfristig wichtiger und hilfreicher auf dem Weg zur besseren Angstbewältigung als die Erfahrung, dass sie auch große Angst und Anspannung aushalten können.
Bei ständiger Fluchtbereitschaft ohne innere Erlaubnis, tatsächlich flüchten zu dürfen, bleibt die körperliche Anspannung dauerhaft aufrecht wie bei einem Läufer vor dem Start.
Das entspricht der Erfahrung vieler Betroffener, die im Rahmen der traditionellen Konfrontationstherapie den vorhergesagten Angstabfall nicht erleben.
10. Suchen Sie die Angst machende Situation bald wieder auf, wenn Sie die Flucht ergriffen haben.
Wenn Sie trotz bester Absichten aus der agoraphobischen Situation geflohen sind, sollten Sie die Übung so bald wie möglich wiederholen, am besten noch am gleichen oder nächsten Tag, damit sich Versagensgefühle oder Erwartungsängste nicht dauerhaft in Ihrem Kopf festsetzen.
Es kann fürs Erste auch ausreichend sein, zumindest einen Termin für eine spätere Wiederholung festzusetzen und die Übung nicht auf unbestimmte Zeit aufzuschieben.
Sollten Sie sich trotzdem nicht zur Wiederholung der Übung aufraffen können, betrachten Sie sich deswegen nicht gleich als Versager, sondern überlegen Sie einmal, ob sich vielleicht die Bedeutung und Dringlichkeit der Übung für Sie geändert hat, sodass Sie die Motivation dafür verloren haben.
Machen Sie sich bewusst: Sie selbst bestimmen, was Sie erreichen möchten und was nicht. Ihre Ziele können sich durchaus ändern.
Es kann zudem auch sein, dass Sie die Aufgabenstellung nur jemand anderem zuliebe ausführen wollten, wie etwa mit einem Sessellift fahren, obwohl Sie im Winter gar nicht mehr Schifahren möchten, mit dem Flugzeug fliegen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, obwohl Sie lieber mit dem eigenen Auto unterwegs sind, oder in ein Opernhaus gehen, obwohl Sie klassische Musik gar nicht mögen.
Sie sollten das Problem auch nicht so lösen, wie dies in der bekannten Geschichte vom Fuchs und den Trauben geschieht.
Sagen Sie nicht: „Das interessiert mich nicht mehr, weil ich es doch nicht schaffe, obwohl ich es sollte“, sondern suchen Sie nach passenderen Zielen, die eine höhere Motivation für Ihr weiteres Vorgehen schaffen.
11. Halten Sie sich bei Fluchtneigung Ihre bisherigen Erfolge und zukünftigen Ziele vor Augen.
Vergegenwärtigen Sie sich in Phasen zunehmender Vermeidung, erhöhter Fluchtbereitschaft oder gar Resignationsneigung die bisherigen Fortschritte bei Ihrer Konfrontationstherapie und loben Sie sich für alles, was Sie im Laufe der Zeit schon erreicht haben.
Rufen Sie Ihre „Erfolgsfilme“ im Kopf ab und überlagern Sie damit Ihre Horrorszenarien, was im schlimmsten Fall passieren könnte.
Vertrauen zu sich selbst und zur Zukunft gewinnen Sie am besten und schnellsten durch die Besinnung darauf, welche Schwierigkeiten Sie in der Vergangenheit bereits gemeistert haben.
Erinnern Sie sich an frühere Flucht- und Vermeidungstendenzen und machen Sie sich bewusst, was Ihnen damals geholfen hat, die Aufgabenstellung erfolgreich zu bewältigen.
Ermutigen Sie sich durch anfeuernde Worte wie: „Ich habe anfangs gefürchtete Situationen schon mehrfach bewältigt, es kann mir auch heute gelingen.“
In abschreckenden Situationen werden Sie leichter durchhalten, wenn Ihr Ziel, etwas ganz Bestimmtes zu erreichen, größer ist, als Ihr Bedürfnis, eine unangenehme körperliche Erfahrung um jeden Preis zu vermeiden. Lernen Sie aus dem Spitzensport.
Aktivieren Sie ein mentales Bild von möglichem Erfolg, sonst neigen Sie dazu, bereits aufzugeben, obwohl Sie noch kämpfen.
Besinnen Sie sich auf Ihr mentales Trainingsprogramm in der Vorphase der Konfrontationstherapie.
Wie haben Sie sich auf jene Phase von Flucht- oder Vermeidungsreaktionen vorbereitet, in der Sie sich jetzt befinden? Was davon können Sie im Moment als hilfreich abrufen?
12. Verzichten Sie möglichst auf alle Hilfsmittel bzw. schleichen Sie diese im Laufe der Zeit völlig aus.
Nehmen Sie vor den Übungen weder ein Beruhigungsmittel noch Alkohol zu sich und führen Sie während der Übungen auch kein Beruhigungsmittel für den vermeintlichen Bedarfsfall oder gleichsam als Talisman mit sich. Verzichten Sie auch auf pflanzliche Mittel oder sogenannte Notfalltropfen.
Sie schaffen damit die Voraussetzungen dafür, dass Sie alle erreichten Erfolge von Anfang an sich selbst und nicht den Substanzen zuschreiben.
Vertrauen Sie für den Fall einer Panikattacke auf vier persönliche Hilfsmittel: kräftige Bewegung mit dem ganzen Körper, langsame Ausatmung durch leicht geschlossene Lippen (Lippenbremse), Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Umgebung und Telefonieren mit Vertrauenspersonen.
Ein gewisses Ausmaß an Angst ist notwendig, um gefürchtete Situationen bewältigen zu lernen. Es gibt keine Angstbewältigung ohne das Erleben von Angst. Der Weg aus der Angst führt durch die Angst.
Verzichten Sie daher, wenn möglich, während der Konfrontationstherapie von Beginn an nicht nur auf Beruhigungsmittel, sondern auch auf das Handy und sonstige „Krücken“, die langfristig das Vertrauen in Ihre eigene Handlungsfähigkeit schwächen, auch wenn sie Ihnen kurzfristig zu einem Erfolg verhelfen – jedoch um einen hohen Preis, nämlich der psychologischen Abhängigkeit von diesen Hilfsmitteln.
Setzen Sie als Alternative auch keine Entspannungsübungen ein. Nur wenn Sie immer wieder die Erfahrung machen, dass Ihre körperlichen Symptome ungefährlich und bewältigbar sind, lernen Ihre Angstzentren im Gehirn, den falschen Alarm abzuschalten.
Verlassen Sie sich von Beginn an einzig und allein auf sich selbst. Bevor Sie jedoch eine für Sie bedeutsame Situation vermeiden oder verlassen, sollten Sie sich ausnahmsweise auf ein Sicherheitszeichen verlassen, wie etwa ein vertrautes Beruhigungsmittel oder das Handy.
Das oberste Ziel ist immer der angestrebte Erfolg – auch wenn er vorübergehend nur mit einem Hilfsmittel möglich sein sollte.
Wenn Sie früher angesichts von agoraphobischen Situationen zur Erleichterung ein Beruhigungsmittel eingenommen oder auch nur mitgeführt haben, sollten Sie im Laufe der Zeit gänzlich darauf verzichten, um Ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Umgang mit Angst, Furcht und Panik zu zeigen und zu verbessern.
Immer mehr klinische Praktiker und Wissenschaftler sind in den letzten Jahren zur Auffassung gelangt, dass der vollständige Verzicht auf alle Hilfsmittel von Anfang an für viele Betroffene eine Überforderung darstellt.
Bei allen Studien fallen jene Versuchspersonen aus, die diese Bedingungen nicht akzeptieren können, sodass die immer wieder zitierten hohen Erfolgsraten der traditionellen Konfrontationstherapie nur für jene Gruppe von Agoraphobikern gelten, die die gestellten Anforderungen zu erfüllen bereit waren.
Was ist mit den Menschen, die unter einer Agoraphobie mit oder ohne Panikstörung leiden, jedoch nicht zur herkömmlichen Konfrontationstherapie mit derart strikten Bedingungen bereit sind?
Die klinische Erfahrung zeigt, dass auch diese Personen langfristig eine Bewältigung ihrer Agoraphobie erreichen können, wenn sie kurzfristig zu Beruhigungsmitteln greifen, ohne deswegen eine körperliche oder psychische Abhängigkeit davon zu entwickeln.
Aufgrund von langjähriger klinischer Erfahrung in der Behandlung von Menschen mit Agoraphobie vertrete ich die Auffassung, dass nicht jedem Betroffenen von Anfang an der Verzicht auf alle Hilfsmittel zugemutet werden kann.
Heutzutage stellt das Handy, das jeder von uns ständig mit sich führt, oft ein wirksameres Hilfsmittel dar als jeder rasch wirksame Tranquilizer, dessen Einnahme mit dem Wissen einhergeht, dass man sich ohnehin nicht in Todesgefahr befindet.
Dagegen stellt der mögliche Griff zum Handy mit eingespeicherten Notrufnummern eine viel wirksamere Sicherheitsstrategie dar, wenn tatsächlich eine Bedrohung für Leib und Leben bestünde.
Wer von uns geht schon ohne Handy aus dem Haus? Viele Gesunde legen Wert auf die Mitnahme eines Mittels gegen Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit oder Durchfall, wenn sie entsprechende Vorahnungen haben, auch wenn sie diese aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen höchstwahrscheinlich gar nicht brauchen werden.
13. Nutzen Sie bei schwierigeren Aufgabenstellungen anfangs die Unterstützung durch Vertrauenspersonen.
Führen Sie alle Übungsaufgaben, die Sie sich alleine nicht zutrauen, zuerst mit einem Angehörigen oder einer Vertrauensperson durch.
Betrachten Sie jede aufgesuchte Situation jedoch erst dann als anhaltend bewältigt, wenn Sie sich dieser auch allein erfolgreich ausgesetzt haben.
Überlegen Sie vorweg auch, ob tatsächlich der Partner die beste Unterstützung darstellt oder ob nicht eine andere Vertrauensperson hilfreicher ist, weil weniger emotional involviert und dadurch weniger Druck ausübend.
Entwickeln Sie zu Beginn der Konfrontationstherapie zusammen mit einer Vertrauensperson einen Behandlungsplan, wie Sie nach den gemeinsamen Aktivitäten die fremde Hilfe langsam „ausschleichen“.
Lassen Sie sich von Ihrer Begleitperson nach Ihren Bedürfnissen unterstützen, aber nicht nach deren Zielen und Plänen dirigieren.
Sie allein bestimmen das Tempo einer derartigen gestuften Konfrontation, um sich nicht zu überfordern, wenngleich Ihnen jede Ermutigung durchaus helfen kann, sich aufgrund Ihrer Fähigkeiten mehr zuzutrauen als nach Ihrer ursprünglichen Einschätzung.
Typische Beispiele sind folgende Vorgangsweisen. Machen Sie zuerst alles gemeinsam: Geschäfte aufsuchen, Schlange stehen vor der Kasse, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, mit dem Auto auf Autobahnen und durch Tunnels fahren, 10 Kilometer Radfahren, einige Stunden wandern im Wald oder auf einem Berg, Aufzüge und Lifte benutzen, sich unter großen Menschenmengen aufhalten, nebeneinander im Kino oder Konzert in der Mitte einer Reihe sitzen, in ein Café gehen oder in einem Restaurant essen.
Gehen Sie, sobald Sie dadurch eine gewisse Sicherheit erlangt haben, in denselben Situationen auf eine gewisse räumliche oder zeitliche Distanz zu Ihrer Vertrauensperson und steigern Sie auf diese Weise den Schwierigkeitsgrad der Übung.
Ihre Begleitperson befindet sich beispielsweise im Supermarkt, im Bus, im Lokal, im Lift, auf der Straße oder Autobahn, in freier Landschaft sowie in anderen Situationen zuerst etwas hinter Ihnen bzw. an einem anderen Platz im Raum, nach einiger Übungserfahrung weiter vorne oder in für Sie unsichtbarer Nähe.
Später beginnen Sie alle Aktivitäten überhaupt zu getrennten Zeitpunkten und an verschiedenen Orten und finden dann an vorher vereinbarten Treffpunkten zusammen.
Bei schwierigeren Aufgabenstellungen ohne Begleitperson kann Ihnen vorübergehend die Sprechverbindung per Handy helfen, Ihren Aktionsradius zu erweitern, anfangs indem Sie permanent in telefonischen Kontakt mit Ihrer Vertrauensperson stehen, später nur mehr bei tatsächlichem Bedarf.
14. Üben Sie, wenn möglich, zusammen mit Menschen, die ähnliche Ängste wie Sie haben.
Nutzen Sie die Möglichkeit des gemeinsamen Übens mit anderen Personen, die ebenfalls unter einer Agoraphobie leiden, wenn die Chance dazu besteht.
Diese Gelegenheit bietet sich vor allem bei Patienten, die in stationärer Behandlung sind oder waren aufgrund der dabei geschlossenen Kontakte.
Erkundigen Sie sich auch nach Selbsthilfe-Gruppen in Ihrer Gegend, sodass Sie zusammen mit anderen gleichfalls Betroffenen an der Bewältigung Ihrer agoraphobischen Ängste arbeiten können.
Zur endgültigen Erfolgsbeurteilung gilt jedoch dasselbe wie beim Üben mit Angehörigen: Dauerhaft sind Ihre Erfolgserlebnisse erst dann, wenn Sie die gefürchteten Situationen unter verschiedenen Umständen auch alleine aufsuchen können.
Hilfreich kann auch – ähnlich wie bei Menschen mit sozialen Ängsten oder Depressionen – der Anschluss an eine Gruppe sein, bei der es um ganz andere Dinge geht, wie etwa Sport, Kultur, Fort- und Weiterbildung, soziale Hilfsdienste, kirchliche, politische oder umweltbezogene Aktivitäten.
Die Struktur einer Gruppe mit fixen Terminen und Aktivitäten kann sich auch positiv auf die Bewältigung der Agoraphobie auswirken, weil durch die als sinnvoll und persönlich befriedigend erlebte Betätigung eine Motivation zum Tragen kommt, die weit über ein Training zur Bewältigung von Angst und Panik hinausgeht.
Seit dem Internet gibt es neue Formen von Kontaktmöglichkeiten für jene, die wegen einer Agoraphobie das Haus nicht verlassen können.
Nutzen Sie die Chance auf soziale Unterstützung durch Angst-Seiten mit öffentlichen oder geschlossenen Foren, bei denen sich die Betroffenen austauschen können – und später vielleicht auch treffen, um gemeinsame Aktivitäten auszuüben.
15. Lassen Sie Ihre Angst zu, statt sich in einen Kampf dagegen zu verstricken.
Betrachten Sie die Angst wie Ihren Schatten, der Sie überallhin begleitet, doch Sie bestimmen den Weg.
Akzeptieren Sie Ihre Angst und beobachten Sie, wie sie im Laufe der Zeit ganz von allein wieder abnimmt, wenn Sie sie nicht bekämpfen und damit nicht mehr so aufschaukeln wie bisher.
Je mehr Sie direkt gegen Angst, Furcht und Panikattacken ankämpfen, umso angespannter werden und bleiben Sie.
Das Ziel der Angstbehandlung ist nicht die vollständige Beseitigung von Angst und Furcht, sondern die Erweiterung Ihres Handlungsspielraums zur Verbesserung Ihrer Lebensmöglichkeiten.
Achten Sie von Beginn der Konfrontationstherapie an darauf, dass Sie nicht so sehr gegen Ihre Ängste kämpfen, sondern vielmehr für Ihre Freiheit, tun und lassen zu können, was Sie wollen.
Üben Sie nicht nur das Aushalten unangenehmer Situationen, die auch weniger ängstliche Menschen ungern erleben, sondern unternehmen Sie viele Dinge, die Sie eigentlich gerne tun möchten.
Vergegenwärtigen Sie sich, was Sie früher gerne getan haben, und malen Sie sich in der Fantasie möglichst plastisch aus, wie Sie jene Situationen aufsuchen, deren Bewältigung Sie in der nächsten Zeit erst noch üben müssen.
Hauptziel ist nicht, weniger Angst, sondern ein erfüllteres Leben mit mehr Möglichkeiten als bisher.
16. Vergegenwärtigen Sie sich in Angstsituationen Ihre Gesundheit.
Die Symptome von Angst, Furcht und Panik sind übersteigerte Körperreaktionen in subjektiven Stresssituationen. Sie sind sehr unangenehm, aber nicht gefährlich.
Machen Sie sich bewusst, dass Sie in unerwarteten, unsicheren und Angst machenden Situationen rascher als andere Menschen zu heftigen psychovegetativen Begleitreaktionen neigen, wie etwa Herzrasen, Schwitzen, Schwindel, Beklemmungsgefühlen, Übelkeit, Harn- oder Stuhldrang, aber deswegen nicht wirklich krank sind.
Erinnern Sie sich an ärztliche Untersuchungen, die Ihre Gesundheit bestätigt haben. Vergegenwärtigen Sie sich Ihre Leistungsfähigkeit in Situationen ohne Angst, soweit es körperliche Arbeit oder sportliche Betätigung betrifft.
Denken Sie an Situationen zurück, in denen Sie sich körperlich ähnlich unwohl gefühlt haben, dann aber doch die gestellten Aufgaben erfolgreich erledigen konnten.
Halten Sie sich vor Augen, dass Sie dieselben Übungen leichter bewältigen können, wenn eine Vertrauensperson anwesend ist. Dies bedeutet doch, dass Kraft und Energie aus Ihnen und nicht von außen kommen.
Wenn ein mitgeführtes, aber gar nicht eingenommenes Beruhigungsmittel wirkt, unterliegen Sie dem bekannten Placebo-Effekt, der nichts Anderes darstellt als die Mobilisierung Ihrer Fähigkeiten und die Aktivierung Ihrer Selbstheilungskräfte.
Könnten Sie wirklich körperlich krank sein, wenn Flucht und Vermeidung schlagartig eine Befindlichkeitsverbesserung bewirken?
Der Gedanke an Ihre Gesundheit stellt zwar ebenfalls eine Sicherheitsstrategie dar, er ist jedoch gerechtfertigt, wenn Sie auf diese Weise ohne Beruhigungsmittel jene Situationen aufsuchen können, die für Sie von großer Bedeutung sind.
17. Bleiben Sie gedanklich ganz im Hier und Jetzt, ohne Horrorfantasien, was im schlimmsten Fall passieren könnte.
Nehmen Sie wahr, was mit Ihrem Körper im Moment geschieht. Bleiben Sie ganz in der Gegenwart des augenblicklichen Erlebens.
Gehen Sie mit Ihren Gedanken und Vorstellungen nicht in die Zukunft und steigern Sie sich nicht hinein, was schlimmstenfalls passieren könnte.
Bei der seit Jahrzehnten erfolgreich praktizierten gestuften Konfrontationstherapie wird das Konzept der Achtsamkeit, das erst später in die Verhaltenstherapie integriert wurde, in gewisser Weise bereits berücksichtigt.
Sie sollen Ihren Körper mit den aktuellen Symptomen nur beobachten, ohne diese als bedrohlich einzuschätzen, und durch die fortwährende Beobachtung der im Moment ablaufenden körperlichen Symptome ganz in der Gegenwart bleiben, statt geistig ständig in die Zukunft vorauszueilen und immer wieder neue Horrorfantasien zu entwickeln, welche lebensbedrohlichen Gefahren Ihnen bevorstehen könnten.
Beschreiben Sie Ihren momentanen körperlichen und psychischen Zustand und bleiben Sie ganz bei dem, was gerade in Ihrem Inneren geschieht, wenn Sie die auftretenden körperlichen Symptome, Gedanken und Vorstellungen nicht einfach gelassen ignorieren können.
Nehmen Sie den Ablauf der körperlichen Symptome wahr wie ein neutraler Beobachter oder wie ein Wissenschaftler, der bei Ihnen ganz genau studieren möchte, wie eine Panikattacke oder eine panikähnliche Symptomatik abläuft.
Reden Sie mit sich selbst so, wie wenn Sie den Ablauf der Geschehnisse einer vertrauten Person per Handy berichten würden.
Wenn Sie dazu in der Lage sind, sollten Sie eine Panikattacke mithilfe des Memos Ihres Handys festhalten, um Ihre Darstellung später einer Vertrauensperson, einem Arzt oder einer Psychotherapeutin zu präsentieren, etwa so:
„Mir wird plötzlich ganz schwindlig. Eine unangenehme Übelkeit überfällt mich. Eine Hitzewelle steigt von meinem Bauch bis zu meinem Kopf hinauf. Mein Herz beginnt zu rasen, manchmal auch zu stolpern. Mein Brustkorb schnürt sich zusammen, der Druck auf meiner Brust nimmt zu, ich muss vor Beklemmungsgefühlen um Luft ringen. Mein Mund wird ganz trocken und mein Hals ganz eng. Unangenehme Kribbelgefühle breiten sich in meinen Armen und Beinen aus. Nach den Hitzewallungen kommen jetzt auch Kältegefühle am ganzen Körper auf. Nach anfänglicher Erstarrung beginne ich jetzt immer stärker zu zittern. Ich bekomme Todesangst und verliere gleich das Bewusstsein. Ich kann die Umwelt nicht mehr deutlich wahrnehmen und gleich auch nicht mehr klar denken.“
Nehmen Sie neben Ihren körperlichen Symptomen durchaus auch Ihre Bedrohungseinschätzungen bewusst wahr, wie etwa: „Mein Herz rast, gleich bekomme ich einen Herzinfarkt“; „Es schnürt mir die Brust und die Kehle zu, gleich muss ich ersticken“; „Ich bin ganz schwindlig, gleich falle ich um und sterbe durch einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall“; „Ich kann nicht klar sehen und denken, ich stehe völlig neben mir, und die Umwelt schaut plötzlich ganz anders aus; gleich drehe ich durch und lande in der geschlossenen Psychiatrie“; „Ich bin innerlich total angespannt, gleich laufe ich Amok und tue jemand anderem oder gar mir selbst etwas Schlimmes an“.
Machen Sie sich bewusst, dass es sich hier nur um Ihre Gedanken und Vorstellungen und nicht um die Realität handelt. Sagen Sie sich: „Das ist eine Panikattacke. Ich interpretiere gerade meine unkontrollierbaren körperlichen Symptome als Bedrohung meines Lebens und meine unkontrollierbaren Gedanken als Bedrohung meines Verstandes.“
Vergegenwärtigen Sie sich auch den biologischen Hintergrund Ihrer Panikattacke als falschen Alarm, der nichts mit Ihrer Psyche zu tun hat, etwa mit folgenden Worten: „Ich werde gerade von meinem Säugetierhirn, dem limbischen System mit seinen beiden Mandelkernen gesteuert. Bald wird mein menschlicher Verstand mithilfe des Frontalhirns die Kontrolle darüber gewinnen.“
In ähnlicher Weise werden seit langem auch Menschen mit einer Zwangsstörung instruiert: „Das bin nicht ich, das ist meine Zwangsstörung“, aber auch Alkoholiker: „Das bin nicht ich, das ist mein süchtiges Verlangen nach Alkohol.“
Selbst bei einer Depression hilft vielen Betroffenen eine stärker biologische Sichtweise, wie etwa: „Das bin nicht ich. Mein Denken und Verhalten ist Ausdruck meiner gestörten Gehirnchemie.“
Durch eine derartige Einstellung gewinnen Menschen mit einer psychischen Störung leichter einen Abstand zu ihrem momentanen körperlichen und psychischen Erleben und werden nicht völlig davon überwältigt.
Als nichtärztlicher Psychotherapeut bin ich davon überzeugt: Etwas Biologismus kann Ihnen helfen, sich nicht ständig als psychisch schwach und unfähig zu fühlen.
Als Folge davon machen Sie leichter die Erfahrung: „Ich kann einerseits unangenehme körperliche und psychische Symptome haben und dennoch erfolgreich handeln.“
Die gleichzeitige Wahrnehmung und Distanzierung von Ihren Symptomen ermöglicht Ihnen trotz der Betroffenheit davon die zunehmende Konzentration auf das, was Sie im Moment eigentlich tun wollen, nämlich eine bestimmte Situation erfolgreich aufsuchen, um das zu erleben, was Ihnen wichtig ist.
18. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit in Angst- und Paniksituationen auf die Umwelt statt auf Ihren Körper.
Lenken Sie bei der größten Angst und Panik allein zu Hause oder auswärts Ihre Aufmerksamkeit auf die Umwelt, wenn Sie Ihren Körper nicht achtsam beobachten können, wie Schritt 17 Sie dazu anleiten möchte.
Nehmen Sie zur besseren Konzentration auf Ihre Umwelt alle fünf Sinne zu Hilfe. Was sehen und hören Sie um sich herum? Was riechen und schmecken Sie gerade? Welche Umwelteinwirkungen spüren Sie auf Ihrer Haut? Sehen und Hören gelten als Fernsinne; sie beziehen sich auf die Umwelt.
Setzen Sie gerade auf diese beiden Sinne als Möglichkeit, Ihre Aufmerksamkeit auf die Umwelt zu richten, um sich von Ihren Körperempfindungen, Gedanken und Gefühlen der Angst abzulenken.
Beobachten und beschreiben Sie Ihre Umwelt, nicht nur die Menschen, sondern auch die belebte und die unbelebte Natur in einer Weise, als würden Sie einem Bekannten berichten, was im Moment um Sie herum los ist.
Reden mit anderen Menschen oder der Griff zum Handy fördern nicht nur die Konzentration auf die soziale Umgebung, sondern auch die Beschäftigung mit einem Thema, das nichts mit Angst, Furcht und Panik zu tun hat.
Hören Sie auswärts über Kopfhörer Ihre Lieblingsmusik, singen Sie zu Hause laut Ihre Lieblingslieder, machen Sie selbst Musik oder beginnen Sie zu tanzen in einem bestimmten Rhythmus.
Reden Sie in der Wohnung laut mit sich selbst und beschreiben Sie, was Sie gerade tun bzw. tun sollten.
Sprechen Sie unterwegs fremde Menschen an, um sie nach etwas Bestimmten zu fragen, sodass Sie das Gefühl bekommen, mit sich und Ihren Symptomen nicht ganz allein zu sein.
Reden, Singen und Musizieren aktivieren mehr Teile Ihres Gehirns als das bloße Denken, weil auch das Hören dazukommt.
Ihr planendes Gehirn, also Ihr Frontalhirn, übernimmt gleichzeitig die Kontrolle über Ihr Verhalten, ohne dass Sie sich darum kümmern müssen.
Darüber hinaus geraten Sie durch angenehme Musik in einen emotional positiven Zustand, der Ihre ängstliche Erregung überlagert.
Nehmen Sie mit Ihren Händen oder Ihrem ganzen Körper Kontakt mit der Umwelt auf und nutzen Sie Hautkontakt als Möglichkeit des Wohlbefindens. Kuscheln Sie sich zu Hause in eine warme Decke, stellen Sie sich unter die Brause, nehmen Sie Körperkontakt mit Ihrem Partner bzw. mit Ihrem Lieblingstier auf oder cremen Sie sich mit Ihrer Lieblingscreme ein.
Spüren Sie auswärts die Sonne, den Wind und momentane Temperatur auf Ihrer Haut, um dadurch die körperlichen Empfindungen der Angst zu überlagern.
Profitieren Sie zu Hause von der wohltuenden Wirkung verschiedener ätherischer Öle, Ihrer Lieblingsblumen oder verschiedener Lieblingsgewürze. Riechen Sie auswärts von einem Duftfläschchen mit Ihrem Lieblingsgeruch.
Lutschen Sie Ihr Lieblingsbonbon, kauen Sie einige Stück Kaugummi oder essen Sie Ihr Lieblingsobst und nehmen Sie den angenehmen Geruch und Geschmack wahr.
Vertiefen Sie sich ganz in eine Tätigkeit, sodass Sie im Flow sind, das heißt mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit darin aufgehen.
Das kann, je nachdem, wo Sie sich gerade befinden, ein Computerspiel auf dem PC oder auf dem Handy sein oder ein spannender Film, eine Lieblingssportart, Fotografieren, Filmen, aber auch die Zubereitung Ihres Lieblingsgerichts.
Wenn Sie sich schon auf Ihre Angst und Furcht konzentrieren, sollten Sie mit den körperlichen Zuständen laut, halblaut oder leise in Form eines Dialogs reden, also wie ein Außenstehender mit ihnen ins Gespräch kommen, ähnlich wie Sie mit einem anderen Menschen sprechen und dadurch einen gewissen Abstand zu ihnen gewinnen, etwa so: „Liebe Angst, ich kenne dich schon, du willst mich wieder so schrecken wie bei der letzten Panikattacke, aber jetzt weiß ich, dass keine reale Gefahr besteht. Ich werde dich als Freund wirklich beachten, wenn tatsächlich eine Bedrohung besteht, aber jetzt möchtest du mich nur unnötig in Panik versetzen.“
19. Nutzen Sie bei Angst vor Panikattacken körperbezogene Strategien.
Bei der Bewältigung von Agoraphobie, vor allem im Rahmen einer gestuften Konfrontationstherapie, geht es nicht primär darum, mit Panikattacken besser umgehen zu lernen, sondern neue Lernerfahrungen in Situationen zu machen, die für Sie positiv sind, und dabei mittelstarke Ängste aushalten zu lernen.
Unter massiver Panik ist man durch die Überaktivierung nicht lernfähig, wenn man neue oder ungewohnte Verhaltensweisen aufbauen und üben möchte, wie etwa Autofahren auf der Autobahn oder im Tunnel, über eine schmale Hängebrücke gehen, eine hohe Fluchtstiege hintergehen, von einem Kinofilm profitieren oder aufmerksam eine Theater- oder Opernaufführung verfolgen. Die Leistungsfähigkeit wird durch zu viel Angst blockiert und durch zu wenig Angst nicht angeregt.
Wenn während der gestuften Konfrontation Panikattacken auftreten, sollten Sie schon vorher den Umgang damit gelernt haben, wie Ihnen dies bei Schritt 6 vorgeschlagen wird, und nicht während Ihrer Übungen erstmalig damit zurechtzukommen versuchen. Sie sind sonst nicht so leicht in der Lage, erfolgreich neue Lernerfahrungen in bislang gefürchteten Situationen zu machen.
Seien Sie bei Ihren Übungen durchaus bereit zu einer Panikattacke, ohne diese direkt zu provozieren.
Lassen Sie sich in einer fortgeschrittenen Phase Ihrer Konfrontationstherapie auf Situationen ein, in denen Sie eine Panikattacke oder eine panikähnliche Symptomatik fürchten.
Wohl aus diesem Grund finden Sie bestimmte Übungen schwieriger als andere. Sie werden die Erfahrung machen, dass eine Panikattacke umso weniger auftritt, je weniger Sie sich davor fürchten.
Wenn es Ihnen schwerfällt, eine Panikattacke passiv über sich hinwegziehen zu lassen wie einen Gewittersturm, dann bewähren sich die folgenden Hilfestellungen.
Bei bevorstehender Panikattacke kann Ihnen zur Absenkung der Anspannung langsames Ausatmen durch leicht geschlossene Lippen helfen (Fachausdruck Lippenbremse).
Bei bereits einsetzender Panikattacke hilft am besten eine kräftige Bewegung mit dem ganzen Körper, um den Adrenalinstoß rasch abzubauen.
Das spontane Bedürfnis nach Bewegung führt sonst zu unkontrollierten Fluchtreaktionen aus subjektiv bedrohlichen Situationen.
20. Nutzen Sie in der Angstsituation bestimmte Affirmationen und Selbstinstruktionen, um sich zu ermutigen.
Mithilfe der Sprache, die eine Leistung des Großhirns ist, können Sie Ihre Angstgefühle, die vom limbischen System, unserem „Säugetierhirn“ ausgehen, ganz gut „in den Griff“ bekommen. Coachen Sie sich durch aufbauende Selbstgespräche, wie etwa: „Ich schaffe, was ich mir vorgenommen habe“; „Es ist ein Zeichen von Stärke, seine Schwäche zuzulassen“; „Ich kann mit und trotz Angst erfolgreich sein“; „Ich muss mich bei den Übungen nicht wohlfühlen, Hauptsache ist, ich erreiche meine Ziele“; „Ich habe neben meinem ängstlichen Teil auch einen starken Teil in mir, auf den ich mich verlassen kann“.
Welche der genannten 20 Punkte könnten für Sie zukünftig eine große Hilfe bei der Bewältigung Ihrer Agoraphobie sein? Was ist Ihnen bereits vertraut, was ist neu für Sie und einen Versuch wert?